Montag, 1. September 2014

Hinaus

Immer mal wieder hat der kleine Strolch Bauchweh. So richtig doll, mit Erbrechen und als jammerndes Häufchen Elend in Embryohaltung auf dem Sofa liegend. Früher passierte das so alle drei bis sechs Monate ohne erkenntliche Ursache, wenn auch vielleicht zusammenhängend mit innerlicher Aufruhr - Schulbeginn, Klassenarbeiten, Basketballtraining? Heute morgen war es wieder einmal so weit, allerdings lag das letzte Mal bestimmt zwei Jahre zurück und keine der bisherigen Episoden war so schmerzhaft wie diese. Zusammengeklappt heulte der kleine Strolch vor Schmerzen, bis Lilli mit ihm in die Notaufnahme des Krankenhauses fuhr - schliesslich könnte es ja auch Blinddarmentzündung sein. Dort ging dann das Erbrechen los, was immerhin dazu geführt hat, dass sie relativ schnell drankamen und nach etwa vier Stunden schon einen Arzt sehen konnten. Kurzum, Lilli verbrachte den Tag damit, dem kleinen Strolch tröstend den Rücken zu reiben und/oder mit einem kalten Waschlappen das Gesicht abzutupfen, während um sie herum Betten belegt und wieder frei wurden. Hauptsächlich alte Leute trudelten ein, um vom Pflegepersonal in Kittel gewickelt, mit Mutter-Theresa-Leintüchern zugedeckt und Fieber gemessen zu werden. Dann die allerwichtigste Frage, die Lilli zuerst in ihrer Plumpheit peinlich berührte, dann aber, nachdem sie wirklich jedem Patienten gestellt und lang und breit diskutiert wurde, an Zudringlichkeit verlor: "Wie machen Sie Stuhlgang?", wollten die Pfleger bei jedem Neuzugang wissen, und weil meist keine klare Antwort darauf kam: "Sind Sie da selbständig oder soll ich Ihnen einen Topf bringen? Oder tragen Sie eine Windel?" Daraufhin kamen unwirsch gemurmelte Erklärungen, die bestimmt keiner gerne abgab, es wurde von Durchfall erzählt und auf künstliche Ausgänge hingedeutet, und Lilli wurde eines klar: sobald ein Mensch für längere Zeit an ein Bett gefesselt ist, wird die Ausscheidung des körperlichen Mülls zu einer Frage, die es flugs zu regeln gilt, wenn man nicht ununterbrochen damit beschäftigt sein will, Betten abzuziehen und Unmengen von Leintüchern zu waschen. Wie schnell ist man doch reduziert auf die Grundbedürfnisse, das Aufnehmen und vor allem Ausscheiden von Nahrung, das wir mit den Tieren gleichhaben, aber anders als diese normalerweise nicht in der Öffentlichkeit erledigen. Im Krankenhaus aber wird alles öffentlich, da wird der Mensch zum Tier, zum Körper, den es zu versorgen gilt, und da alle Körper gleich sind, braucht man auf den dazugehörigen Menschen keine Rücksicht zu nehmen. Während der kleine Strolch damit beschäftigt war, seine Nahrung über die Speiseröhre wieder ans Tageslicht zu fördern, wurde neben ihm und nur durch einen Vorhang getrennt eine Windel gewechselt, während der Mann gegenüber ein Medikament trank, das seinen Stuhlgang auf so spektakuläre Weise beschleunigen sollte, dass die Krankenschwester neben ihm in den Startlöchern stand, um ihn auf sein Signal hin aufs Klo zu bugsieren. Später sank der kleine Strolch erschöpft auf sein Kissen zurück und schlief ein, und Lilli verliess diese Jammerstätte des menschlichen Daseins, um selbst ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. In ihrem eigenen Bett und weit weg von all dem Elend.

Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

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Zuletzt aktualisiert: 23. Mai, 03:27

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