Mittwoch, 19. November 2014

Zeugnis

Der kleine Strolch ist jetzt im zweiten Jahr der Sekundarstufe, was der deutschen Klasse 8 entspricht. Die Einteilung in Gymnasium, Real- und Hauptschule gibt es in Québec nicht, da gehen alle auf die gleiche Sekundarschule bis Klasse 11, danach können sie dann noch weitermachen oder nicht. So jedenfalls sieht die Theorie aus, in der Praxis gibt es Privatschulen und öffentliche Schulen, und die Privatschulen suchen sich ihre Schüler nach einem Aufnahmetest aus, während die öffentlichen Schulen alle nehmen müssen, die übrig bleiben.

Die Strolche gehen also auf eine Privatschule, die für ihr anspruchsvolles Programm bekannt ist. Und obwohl beide dafür die Aufnahmeprüfung bestanden haben, was ja schon ein Zeichen dafür ist, dass sie beide dem Niveau entsprechen, hatte Lilli beim kleinen Strolch so ihre Zweifel. Das erste Jahr lief gut, was Lilli aber auch nicht sehr beruhigt hat, denn sie weiss ja, dass das noch als Kuschel- und Übergangsjahr relativ harmlos war. Jetzt aber standen die ersten Zeugnisse des zweiten Jahres an. Wenn Lilli ihren Sohn als Lernenden hätte einschätzen müssen, hätte sie, basierend auf dem, was sie so zuhause mitkriegt, eher Mittelmässigkeit vorgeschlagen: zwar mit schneller Auffassungsgabe ausgestattet, aber eher faul. Nervös manchmal und deshalb wohl in vielen Fällen unaufmerksam, besonders bei allen Fächern, die mit Geschichte, Politik, Ethik, Erdkunde und Chemie zu tun haben. Sieht nicht ein, wozu er mehr als Grundkenntnisse in Fremdsprachen bräuchte, und findet Französisch langweilig. Macht seine Hausaufgaben schnell schnell in der Schule und zeigt sie nicht her, während der grosse Strolch stundenlang damit zubringt....

Schön (wenn auch etwas befremdend, aber schön allemal), jetzt ein Zeugnis in der Hand zu halten, das durchweg gute bis erstklassige Noten zeigt. "Und besser als der Durchschnitt", wie Monsieur beeindruckt anmerkt, denn der Klassendurchschnitt steht dabei. Die besten Noten hat er in Englisch und Französisch, dazu ermunternde Bemerkungen wie "sehr gute Mitarbeit, trägt viel zur Diskussion bei, aufmerksam". Der kleine Strolch kommt also gut durch die Welt im Moment, wirkt auf andere Menschen anders (und besser) als auf seine eigenen Eltern, zeigt Interesse, kann sich konzentrieren, bringt die von der Gesellschaft erwartete Leistung. Lilli Weiss, dass Schule nur eine bestimmte Art von Intelligenz prüft und belohnt und dass nicht alle, die schlechte Noten haben, deshalb gleich Lernschwierigkeiten haben. Dass die eigenen Kinder in dieses Schema passen, ist trotzdem eine Riesenerleichterung. Der kleine Strolch, der seit dem Sommer grösser als Lilli mit ihren 1,78 m ist, ist in ihren Augen gestern abend gleich noch ein Stück gewachsen.

Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

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Zuletzt aktualisiert: 23. Mai, 03:27

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