Unnötig

Diesen Sommer hatte Lilli eine gute Idee. Fand sie jedenfalls. Es ist ja so, dass Lilli und ihre Familie vor den Toren von Montréal wohnen und das Einzugsgebiet der Strolche sich bisher auf das Vieleck Haus-Schule-Eishalle-Freunde beschränkte, das mit dem Fahrrad abgedeckt werden konnte. Montreal selbst, d.h. die Insel von Montreal mit ihrem öffentlichen Verkehrsnetz, kannten die Strolche nur von gelegentlichen Ausflügen ins Theater oder ins Museum. Die gute Idee von Lilli bestand darin, den Strolchen diesen Sommer eine Wochenkarte zu kaufen und sie auf eine Schnitzeljagd durch die Stadt zu schicken. Jeden Tag mussten bestimmte Punkte der Stadt aufgesucht und fotografiert werden. Dabei plante Lilli grosszügig Freibadbesuche, Eisdielen und Crêpebuden mit ein, und jeden Tag sollten die Strolche weiter weggeschickt bzw. kompliziertere Bus- und Metroverbindungen ausfindig gemacht werden. "Wie heissen die drei überdimensionalen Freilichtskulpturen auf dem Gelände des neuen Krankenhauses?" lautete eine Frage, und "Wessen Statue steht direkt vor dem Eingang des Eishockeyzentrums?" eine andere.

Die Strolche brachten wenig Begeisterung auf. So wenig, dass Lilli die Schatzsuche abblies, noch bevor sie ganz geplant war, und die Strolche undankbare Langweiler schimpfte. Sollten sie doch sehen, wie sie alleine in der Stadt zurecht kommen, wenn sie dann mal plötzlich irgendwo hin müssen!

Nun, jetzt ist es soweit. Diese Woche war der grosse Strolch mit seinen Freunden in der Stadt, um diverse Sportartikel und Klamotten zu kaufen. Ganz ohne mütterliche Betreuung haben sie es geschafft, den Metroplan zu lesen und selbständig von A nach B und wieder zurück nach A zu kommen.

Natürlich hat Lilli den grossen Strolch gelobt, aber gleichzeitig war sie traurig. Die Kinder machen jetzt ihre eigenen Erfahrungen ganz ohne Lilli. Es war ihr schon klar gewesen, dass sie die Strolche bei der Schatzsuche nicht begleiten hätte können, aber wenigstens wollte sie den Lernprozess dirigieren und formatieren. "Nicht nötig", lacht das Schicksal Lilli ins Gesicht und weist sie an, sich schleunigst andere Betätigungsgebiete zu suchen. Vielleicht brauchen ja die Syrier, die demnächst hier ankommen sollen, jemanden, der sie an die Hand nimmt?

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Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

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Zuletzt aktualisiert: 23. Mai, 03:27

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