Reise in den Abgrund

Samstag, 5. Mai 2012

Backofentherapie

Anne-Marie Lecompte ist Journalistin und schreibt für eine Frauenzeitschrift eine Kolumne über die Höhen und Tiefen des Familienlebens. Mit viel Augenzwinkern und Ironie berichtet sie über Renovierungsarbeiten, Urlaubsplanungen und Besuche der Schwiegermutter, über ihren Mann Raoul, die zwei Söhne und diverse Haustiere. Letztes Jahr hat sich ihr sechzehnjähriger Sohn umgebracht und seither schreibt sie auch sehr offen darüber, wie sie mit dem Berg an Schuldgefühlen, Unverständnis und himmelschreiender Trauer umgeht. "Die Welt wird nicht aufhören, sich zu drehen", sagt ihr eine Freundin, aber nicht, um den Selbstmord zu banalisieren, sondern um ihrer Empörung Luft zu machen, dass das Leben für die Überlebenden gnadenlos weiter geht, immer weiter, weiter. Die Welt hört nicht auf, für nichts. Auch nicht, wenn man auf einer Bettkante sitzt und selbst nicht mehr weiter weiss: die Welt wird weiter wissen und unaufhörlich Abende, Morgen, Regen und Sonne anbieten, wie sie es schon immer getan hat.

Lilli steht also von der Bettkante wieder auf und backt. Diesmal sind es Schokolade-Rote-Beete-Muffins, die in ihrer Abartigkeit gut zur Situation passen. Von aussen sehen sie ganz normal und harmlos aus, innen drin aber verstecken sich Zutaten, die bisher dort nichts zu suchen hatten.

Neulich

Neulich hatte Monsieur genug. Er schlug mit der Hand auf den Tisch und wurde laut. Die Strolche weinten, Lilli weinte, Monsieur weinte. Hinterher sass Lilli auf der Bettkante und zog ihren Ehering vom Finger. Es fühlte sich sauschlecht an.

Freitag, 30. September 2011

Bruchteile von Sekunden

Wenn Lilli Monsieurs Schlüssel im Schloss hört, klopft ihr Herz schneller. Sieht sie sein Automodell im Strassenverkehr, dreht sie den Kopf. Fängt sie ein Lachen ein, das dem seinen gleicht (früher, als er noch so richtig lachte), sucht sie schnell die Köpfe ab, die die Menschenmenge um zehn Zentimeter überragen. Ist er in einer anderen Stadt und das Telefon klingelt, zuckt sie kurz zusammen. Kommt er aber zur Tür herein, genügt ein Blick auf seine traurigen Augen, um zu merken, dass er immer noch was durchmacht, was sie nicht verstehen kann. Dann pocht ihr Herz ein paarmal dunkel, bevor es wieder normalen Betrieb aufnimmt.

Montag, 15. November 2010

Schön wie ein Ölwechsel

Schön war's, Lillis Wochenende mit Monsieur. Es gab viel Wald, viel Essen und eine wohltuende Fussmassage, bei der Lilli fast eingeschlafen wäre, obwohl es eine wildfremde Frau war, die da Lillis Zehen rieb und drückte. Es gab ein paar schöne Momente zusammen, von denen Lilli gerne gehabt hätte, dass sie innig wären, die man aber eher als harmonisch beschreiben könnte, was ja auch nicht wenig ist. "Und?", fragte Lillis Freundin heute morgen bei der Hausfrauengymnastik. Nichts und. Das Wochenende war kein einschneidendes Erlebnis, das Lilli und Monsieur zurück in den siebten Himmel katapultiert hätte. Eher eine Instandhaltungsmassnahme, die - regelmässig ausgeführt - der Karrosserie ein langes, reibungsloses Laufen garantieren soll. Ganz ohne Stottern.

Freitag, 5. November 2010

Lilli gärtnert

Zwischen Schulbeginn und Weihnachten gibt es genau ein Wochenende, an dem kein Eishockey stattfindet. Dieses Jahr hat Lilli diese einzigartige Gelegenheit, die Strolche einer freundlichen Gastfamilie anzuvertrauen, nicht verpasst und ein Tête-à-tête mit Monsieur geplant. In einem Hotel im Wald mit Schwimmbad und Wellness. Sie werden spazieren gehen, anschliessend in einer Ganzkörperpackung (Moor? Algen? SCHOKOLADE???) einweichen und hoffentlich wieder näher zusammenrutschen können. Vielleicht ein bisschen reden, ohne auf gespitzte Kinderohren Rücksicht nehmen zu müssen, aber auch (hoffentlich) einfach miteinander sein und sich daran erinnern, dass es nichts Schöneres gibt als dieses Miteinander. Ein wenig mulmig ist Lilli dabei schon.

Freitag, 1. Mai 2009

Das Band der Ehe

Monsieur sitzt gerade im Flieger nach New York. Obwohl es kein langer Flug ist von Montréal aus und er auch nicht lange weg bleiben wird, spürt Lilli ein Ziehen in der Magengegend. Als ob dort ein Gummiband angebracht sei, das sich nun, mit wachsender Entfernung zwischen ihnen, dehnt und dehnt. Es wird nicht reißen, oh nein, es wird nur zwicken und ruckartig hin- und herschnalzen und Lilli daran erinnern, dass ausnahmsweise viele Kilometer und eine Staatengrenze zwischen ihnen liegen, die es unmöglich machen, im Notfall schnell zueinander zu eilen und die Hand des anderen zu fassen. Es ist kein Lasso, das Band, und auch keine Leine, an der sie Monsieur festhält. Eher ein unsichtbares Gewächs, an dem sie sich entlanghangeln können, um immer wieder zueinander zu finden. „Ein Ariadnefaden halt“, würde der kleine Strolch lässig sagen, der sich so gut in der griechischen Mythologie auskennt.

Jedenfalls tut es gut, dieses Ziehen zu spüren. Solange das Ziehen da ist, ist alles gut.

Mittwoch, 1. April 2009

Rote Fahne, oder was?

Monsieur ist eine aufbrausende Natur. Was so seine guten und schlechten Seiten hat. Bisher allerdings hat er seine Wutausbrüche auf Geschäftliches (und gelegentliche Telefonate mit seiner Mutter) beschränkt und später mehr oder weniger geknickt darüber berichtet. Am Wochenende aber ging der Wolf (oder was immer es für ein Tier sein mag, das innerlich in ihm wütet) mit ihm zu Hause durch, in Anwesenheit der Kinder. Eigentlich war er wütend auf das Fahrrad, das nicht so wollte, wie er wollte, oder auf sich selbst, weil er nicht mehr wusste, wo das richtige Werkzeug seit letzten Sommer geblieben ist, oder auf die Zeit, die bei den Reparaturarbeiten munter dahinflog, anstatt gnädig einzuhalten und den Montag noch etwas hinauszuzögern. Da er sich aber schlecht selbst zur Schnecke machen konnte, fauchte er Lilli an, die sich seither überlegt, ob sie das nun einfach verstehen und verzeihen soll oder später mal als „red flag“ deuten wird, die im Nachhinein doch eigentlich unmissverständlich signalisierte, dass hier etwas aus den Angeln geraten ist…

Donnerstag, 18. Dezember 2008

Heissa Hopsa, Karlsson

Unvermuteter Trost wird Lilli zur Zeit durch die Lektüre von "Karlsson vom Dach" mit den Strolchen zuteil: wie dieser kleine, gerade richtig dicker Mann in den besten Jahren angesichts des grössten Unglücks mit einer wegwerfenden Handbewegung "Ruhig, nur ruhig" und "Das stört keinen grossen Geist" sagt, hat etwas Magisches, etwas unglaublich Erleichterndes, Beruhigendes, an das Lilli nur zu gerne glauben möchte. Genau wie der kleine schwedische Junge, der sehnsüchtig am Fenster auf das Brummen von Karlssons Motor wartet, hofft auch Lilli insgeheim (nein, sie hofft es nicht, denn sie ist ja erwachsen, aber sie sieht, wie verführerisch dieser Gedanke doch ist) dass jemand kommt, der ihr bestätigt, dass "alles wieder gut" wird. Kinderglaube, Kindersehnsucht... nie wurde "das Kind im Menschen" besser verstanden als von Astrid Lindgren.

Und es kann ja wohl kein Zufall sein, dass dieser kleine schwedische Junge LILLEBROR heisst...

Mittwoch, 12. November 2008

Lebenslisten

Guter Ratschlag von http://cubicwaterdrop.twoday.net/ - eine Liste anlegen mit Dingen, die Lilli an Monsieur schätzt. Um sich in schwierigen Momenten in Erinnerung zu rufen, warum man damals eigentlich meinte, den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Aber solche Listen sind nun mal zweidimensional und haben mit dem richtigen Leben so viel zu tun wie ein Einkaufszettel mit dem, was tatsächlich auf dem Band an der Kasse liegt. Die eigentliche Beziehung geht viel viel tiefer und basiert auf Unaussprechlichem, Unmessbarem, Unfassbarem. Und so muss das auch sein, wenn sie ein Leben lang halten soll. Da geht es um Chemie, um Magnetismus und um andere geheime Kräfte. Das Herz ist ein richtiger Hexenkessel, das ist es.

Dienstag, 11. November 2008

Sackgasse

Heute läuft nix. Aber auch gar nix. Heute würde Lilli am liebsten Monsieurs Koffer packen und vor die Tür stellen, damit er heute abend gar nicht mehr reinzukommen braucht. Aber im Moment zittern ihr die Hände zu sehr dafür.

Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

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