Lilli und die Relativitätstheorie
Als Lilli heute morgen die Treppe zum Büro hochstieg, beschlich sie plötzlich ein seltsames Gefühl: es kroch aus dem Nichts den Rücken hoch, umkreiste ihren Nacken und stieg von dort gleichzeitig runter in den Magen und bis hoch unter die Haarspitzen. Dieses Gefühl lautete in etwa: „Ich schaff es nicht. Ich kann keinen Schritt weiter gehen und diesen Tag nicht anpacken. Nach dem nächsten Schritt bin ich gelähmt und bleibe hier auf der Treppe stehen wie eine Salzsäule, die weder vor noch zurück kann.“ Seltsamerweise liefen ihre Beine trotzdem weiter und trugen sie bis zum Aufzug, der sie in den 46. Stock hochzog und dort vor die Empfangsdame spuckte. Diese lächelte Lilli so freundlich an, als sei dies ein ganz und gar gewöhnlicher Tag und nicht etwa der Tag, an dem Lilli aufhörte zu funktionieren. Danach fing Lillis Arbeitstag an, sich von selbst zu entfalten, ohne sich darum zu kümmern, ob Lilli wollte oder nicht. Und siehe da, Lilli funktionierte einigermaßen und überlebte tatsächlich bis zum Abend. Auf dem Nachhauseweg traf sie mit einer entfernten Nachbarin zusammen, die als Kinderärztin vor kurzem von der Notaufnahme auf die Palliativpflegestation übergewechselt hat. Denn ja, das gibt es auch in Kinderkrankenhäusern. Die Nachbarin gestand Lilli, dass sie daran zweifelt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Dass sie letzte Woche dachte, sie würde es nicht schaffen, und am liebsten einfach nicht mehr hingegangen wäre. Dass sie weiß, dass niemand von ihr erwartet, gleich von Anfang an perfekt zu sein, und trotzdem. Lilli hörte genau zu, obwohl sie den Text schon kannte. „Wichtig ist relativ“, dachte sie bei sich und merkte, wie das seltsame Gefühl von heute morgen wieder ein bisschen weniger kräftig auf ihre Halsschlagader drückte.
Lilli legt los - 23. Nov, 20:26