Vorbei-Gehen
Seit Lilli da wohnt, wo sie wohnt, ist sie fast jeden Tag an einer alten Autowerkstatt vorbeigekommen, in der ein Künstler schafft und lebt. Manchmal stand das grosse Tor, durch das früher die Autos ein- und ausfuhren, offen, sodass man im Innern ein grossartiges Durcheinander erkennen konnte: einen Sandsack zum Boxen, Leitern und Kisten, Bildschirme, grosse Brocken aus Beton und Styropor, Tische, ein Kühlschrank und immer coole Musik. War das Tor geschlossen, leuchteten dahinter tausende von Glühbirnchen, die einen grossen Kreis um das Tor formten, und eine Discokugel warf ihre Pünktchen an alle vier Wände. Manchmal sah man viele Silhouetten von Leuten, die tanzten oder standen, manchmal schien die Festbeleuchtung auch für niemanden. Oft kam der Künstler raus, um mit Lilli zu reden. In den letzten Jahren über die Befürchtung, umziehen zu müssen, um einem Bauprojekt Platz zu machen. Lilli kannte seinen Namen nicht, wusste aber, welche Montréaler Skulpturen der Künstler geschaffen hatte - vor einigen Jahren schon, in letzter Zeit waren die Aufträge seltener geworden. Seit dem Frühjahr schon wurden dicht an seinem Grundstück Eigentumswohnungen gebaut, Ende Oktober wurde er zwangsenteignet und heute morgen sah Lilli, dass die Garagentür, die sonst entweder offen stand oder geheimnisvoll leuchtete, mit Holzbrettern vernagelt ist. Erst jetzt googelte Lilli nach seinem Namen, obwohl sie ihn wohl nie wieder im Vorbeigehen grüssen wird.
Lilli legt los - 9. Nov, 10:00