Mittwoch, 23. Juli 2014

Armutszeugnis

Eine schwangere Frau schlängelt sich durch die parkenden Autos des Parkplatzes bis zu Lilli durch und fragt sie, ob sie etwas Kleingeld hätte. "Wofür?", fragt Lilli verblüfft - im Moment hat sie Urlaub, ist in Gedanken mit Zimmerstreichen beschäftigt und hat andere Zonen ihres Gehirns temporär auf Eis gelegt. "Für Essen und Bus fahren", sagt die Frau mit wenig Überzeugung. Lilli starrt auf ihren Sieben-Monats-Bauch, der in ihrer Welt absolut nicht mit Betteln zusammenpassen will. Bauch und Betteln, das darf nicht sein. Zotteliger Bart und Betteln, das kennt man, stinkige Jeansjacken und Betteln, schlechte Zähne und zittriger Arm und Betteln, das sind so Bilder, an die sich Lilli in Montréal gewöhnt hat. Eine schwangere Bettlerin ist ihr bisher noch nicht begegnet. "Nein, ich hab nur Karten dabei", sagt Lilli mit genauso wenig Überzeugung. Sie ärgert sich über sich, über die Frau, über den Typen mit Schlägermütze, der 50 Meter weiter auf dem Gehweg steht und zu der Frau zu gehören scheint. Und über die Zeit, in der sie lebt und in der eine schwangere Frau so arm ist, dass sie betteln muss, um sich und ihr Kind ernähren zu können. Oder lügt.

Dienstag, 22. Juli 2014

Arbeits-Urlaub

Nach einem halben Tag Zimmer ausräumen und Löcher zuspachteln hat der kleine Strolch genug. Er geht zu seinen Freunden, während Lilli seinen Schreibtisch und das Kopfende des Bettes weiss grundiert, um die Möbel hinterher in der Farbe seiner Wahl streichen zu können. Das Streichen tut ihr gut, leert den Kopf und macht müde. So kann sie in den Urlaub rutschen, ohne sich fragen zu müssen, was sie mit aller der freien Zeit jetzt anfängt.

Mittwoch, 16. Juli 2014

Gelebte Architektur

Lilli und der kleine Strolch wollen nächste Woche sein Zimmer streichen. "Schwarz, Grün, Gelb, Rot und Weiss", denkt der kleine Strolch laut nach, "wie die Farben von Bob Marley". Dann aber fällt ihm auf, dass es da ein Problem gibt: "Ich hab ja aber gar nicht so viel Wände. Nur vier...". Wie das halt bei Zimmern so üblich ist, kleiner Strolch!

Donnerstag, 10. Juli 2014

Sommer im Büro

Wenn Lilli dieser Tage jemand im Büro fragt, wie es so geht, reisst sie Augen und Mund auf und schüttelt den Kopf, dass die Haare nur so fliegen. Alles klar, denken sich die Leute: noch fünf Tage bis zum Urlaub, da hat jetzt die Torschlusspanik eingesetzt. Schliesslich kann man nicht in Urlaub gehen, ohne sich vorher total kaputt zu arbeiten, um aus dem Weg zu schaffen, was einem sonst im Urlaub durch den Kopf geht, während man Pyramiden in Kairo ansieht oder die Zehen am Ontariosee in den Sand bohrt. "Nichts ist umsonst im Leben", sagen die Leute aufmunternd und wünschen ihr, bis zum Urlaubsbeginn zu überleben. Abends werkelt Lilli in der Küche und kneift die Augen zu, um nicht zu sehen, dass eigentlich die Spülmaschine ausgeräumt werden müsste, bevor sie ins Bett flieht.

Mittwoch, 9. Juli 2014

Das "Belgian Wax"-Prinzip

Wer die amerikanische Serie "Will & Grace" kennt, weiss auch, was ein "Belgian Wax" ist - eine Epilation im Bikini-Bereich, die so weh tut, dass man hinterher eine belgische Waffel essen muss, um sich zu trösten. So ähnlich geht es Lilli mit dem Kieferorthopäden, dessen Besuche sich bei zwei Strolchen häufen und der so doof liegt, dass die Strolche nicht mit Bus oder Metro hinfahren können. Unweit davon hat Lilli jetzt eine Bäckerei aufgetan, die das beste Baguette, die himmlischsten Croissants und sogar Vollkornbrot mit Kruste hat. Ein wahrhaftiger Bäcker, der morgens um 6 schon offen hat, weil er versteht, dass man frisches Brot zum Frühstück braucht und nicht erst um 8, wenn der Supermarkt aufmacht! Für Deutschland eine Selbstverständlichkeit, ein Grundrecht, eine notwendige Lebensbedingung, die aus dem Alltag nicht wegzudenken ist, hier allerdings eine Seltenheit. Sogar Mitschele hat er (die Schwaben werden verstehen, was das ist; der Name kommt übrigens vom Französischen "michette"). Deshalb: schon wieder ein Termin bei Doktor S.? Prima, ich fahr dich hin.

Wenn Deutschland spielt

Ab 10 vor fünf bekommt Lilli E-mails mit dem Spielstand ins Büro geschickt. 4-0, heisst es, dann 5-0, später 7-0. Das "für Deutschland" steht noch nicht mal dabei, das wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Die Sender nehmen an, Lilli freut sich darüber, und das Erstaunliche ist: sie tut es tatsächlich.

Montag, 30. Juni 2014

Anglerlatein

Wer von Québec aus nach Norden abbiegt, kann zwei Stunden durch Tannenwald fahren, ohne auch nur einer einzigen Ausfahrt zu begegnen.
028

Die herbe Landschaft, in der nicht viel passiert, obwohl das Auge immer wieder die Zäune entlanggleitet auf der Suche nach einem Rentier, verleitet zu fotografischen Experimenten.

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Belohnt wird man mit einem einsamen See, der alles bietet, was für ein Wochenende Erholung nötig ist: viel Grün, wenig Nachbarn, einen Biber, ein Kanu, vierundsiebzig Unken und, ach ja, auch ein paar Forellen.

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Allein für den einsamen See hätte man aber nicht so weit fahren müssen. Die gibt es hier, wo man mit den Gummistiefeln nur hintritt.

Sonntag, 29. Juni 2014

Mit Kindern reisen

Erstaunlicherweise sah das Rührei, das der grosse Strolch in grossen Mengen auf sich erbrach, noch genau so aus wie vier Stunden zuvor, als es noch auf seinem Teller lag. Jetzt sass er allerdings im Auto, in dem die Familie gedachte, noch weitere drei Stunden zuzubringen, und sah ungläubig auf sich herab.

Merke: beim Versuch, Erbrochenes aus fremden Kleidern zu wischen, stets die Lippen zusammenpressen, um nicht selbst das Übel weiter zu verschlimmern.

Mittwoch, 18. Juni 2014

Lektion

Lilli hatte ihrer schwangeren Kollegin letzte Woche ein paar Ricola-Kräuterbonbons aufgenötigt ("was Gutes aus der Schweiz"), da sie ununterbrochen hustete und das in einem Grossraumbüro nicht zu ignorieren ist. Jetzt zeigt ihr die Kollegin, dass auf der Packung vor dem Verzehr während der Schwangerschaft gewarnt wird. Lilli hat ein schlechtes Gewissen und nimmt sich vor, schwangeren Frauen nie mehr auch nur irgendwas zu sagen. Noch nicht mal den Busfahrplan.

Zitatschlacht

"Wenn man nichts vorhersieht, geschieht viel Unvorhergesehenes", sagte Lillis Generaldirektor vor versammelter Mannschaft, worauf der Gastvortragende glatt mit "Wenn ein Seemann nicht weiss, welches Ufer er ansteuern soll, dann ist kein Wind der richtige" konterte. Ein Sprichwort ist von Seneca, das andere ist glatt erfunden, aber beide sind sie gut.

Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

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Zuletzt aktualisiert: 23. Mai, 03:27

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