Die schreckliche, schreckliche Unbekannte

Die Frau sieht nicht eigentlich krank aus. Beim näheren Hinsehen fallen zwar die abrasierten Augenbrauen auf und die schlechten Zähne, auch die hellen Augen wirken außergewöhnlich durchdringend, aber eine Krankheit kann ein Außenstehender trotzdem nicht gleich vermuten. Das ist ja gerade das Schlimme bei psychisch Kranken – da das Auge ihren Zustand nicht wahrnimmt, will auch das Gehirn nicht gleich folgen. Lilli reagiert also so, wie viele es tun, wenn sie zum ersten Mal auf einen Menschen mit einer psychischen Störung treffen, und versucht, ein normales Gespräch zu führen. Dies aber ist genauso ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen wie der Versuch, einen Gelähmten zum Jogging zu überreden oder einem Einarmigen das Stricken beibringen zu wollen. Das Gespräch ist kein Gespräch, sondern eine Abfolge von widersprüchlichen Aussagen, die Lilli zu kommentieren versucht, während die Frau hartnäckig Lillis Antworten ignoriert. Jeglicher Versuch von Logik oder gesundem Menschenverstand (noch nie war Lilli die Trefflichkeit dieses Ausdrucks so sehr aufgefallen) rennt gegen eine Wand, prallt dort ab, zerbröckelt zu einem jämmerlichen Nichts. Als es Zeit wird, zu gehen, gibt die Frau Lilli ein Stück Papier mit: ein Diktat für die Strolche mit den „wichtigsten Wörtern, die man im Leben wissen muss“: amour, velour, Dieu, deux, aimer, aider, agrumes, légumes (Liebe, Samt, Gott, zwei, lieben, helfen, Südfrüchte, Gemüse – auf französisch reimen sich diese Worte paarweise, was der Frau zu gefallen scheint). Ganz unten noch ein Satz: „Sammler sind meist unglückliche Menschen.“ Lilli schließt die Tür hinter sich, ausgelaugt. Sie ist froh, diese schreckliche, schreckliche Unbekannte hinter sich lassen zu können, die die Ärzte Schizophrenie nennen.

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Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

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Zuletzt aktualisiert: 23. Mai, 03:27

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