Zeichen und Wunder
Lilli ist inzwischen soweit, dass sie ins Auge fasst, was für sich selbst zu machen in all der vielen Freizeit, die die Strolche und Monsieur ihr lassen. Ein Jodeldiplom zum Beispiel oder eine andere hübsche Sache, die nichts mit ihrem Job zu tun hat und kein Sport ist. Der Sommer ist eine gute Zeit, um sich solche Gedanken zu machen, denn Kurse gehen normalerweise im September los und da sollte man sich dann gezielt zu irgendwas anmelden können. Noch dazu hat so ein Kurs ja den Vorteil, einen mit anderen (notwendigerweise) Gleichgesinnten zusammenzubringen und WER WEISS, wozu das führen kann. Womöglicherweise zu einer Freundschaft mit jemandem, mit dem man dann Sachen unternehmen kann, zu denen Monsieur keine Lust hat... Insgesamt also eine gute Idee, und prompt meldet sich bei Lilli der allemal überraschende Wunsch, einen Pinsel in die Hand zu nehmen und zu malen (nicht anzustreichen). Lilli weiss nicht und kann nicht recht verstehen, wo dieser Wunsch nun herkommt oder wo er sich die letzten 30 Jahre, denn solange ist es bestimmt her, dass Lilli ein Bild gemalt hat, versteckt hat. Egal, sie sieht sich nach Malkursen für Anfänger um und wird natürlich in einer Stadt wie Montréal auch fündig. Der Termin ist ein Problem, denn tagsüber ginge zwar manchmal (schliesslich arbeitet sie nur 3 Tage pro Woche), aber halt nicht immer, und nichts hasst Lilli mehr, als einen Kurs zu verpassen, für den sie angemeldet ist. Abends unter der Woche ist auch ganz schlecht, denn schliesslich haben da die Strolche Eishockey, Basketball, Gitarre und all sowas. Am Wochenende? Ja, da sind ja dann die Wochenenden futsch, die vielen Sonntagsausflüge (ha, ha), und Samstags muss Lilli schliesslich einkaufen. Lilli hört sich eine Weile zu, wie sie so nachdenkt und sich anhört wie ihre Mutter, wenn nicht schlimmer. Schliesslich entscheidet sie, dass einem Samstagskurs absolut nichts im Wege steht. Sie findet sogar einen in der Nähe, zu dem sie mit dem Rad hinfahren könnte. Leider verlangen die als Voraussetzung für den Malkurs einen - o Graus - Zeichenkurs. Das konnte Lilli noch nie! Sie windet sich bei dem Gedanken, etwas zeichnen zu müssen, obwohl sie die Logik hinter der Voraussetzung schon versteht. Wie soll man etwas malen können, und sei es nur eine Flasche oder ein Apfel, ohne irgendwelche Grundkenntnisse in Perspektive, Rundungen, Licht und Schatten zu besitzen? Beim örtlichen Strassenfest bleibt sie beim Stand der Kunstschule stehen, um die Leute mal ins Auge zu fassen und herauszufinden, ob der Zeichenkurs nun wirklich absolut Bedingung ist oder ob sie nicht auch einfach so in den Malkurs einsteigen kann. Die Leute sind nett, aber unerbittlich. Da meldet sich Monsieur von hinten: "Wenn du einen Zeichenkurs machst, mach ich mit!" Wie bitte??? Da rafft sie sich auf, um sich von Monsieur zu emanzipieren, notgedrungenerweise und ein bisschen resigniert, da dieser kein Interesse zeigt, was mit ihr zu unternehmen, und kaum hat das Projekt konkrete Form angenommen, steigt Monsieur mit ihr in den Zug. Was nun? Nun, sie wird den Zeichenkurs machen, ihre eigene Unfähigkeit konfrontieren und wer weiss, vielleicht sogar überwinden, und zusammen mit Monsieur was ganz Neues erleben. Ein farbenfroher Herbst steht vor der Tür, wer hätte das gedacht...
Lilli legt los - 25. Aug, 10:07