Freitag, 19. September 2008

Das Kind im Mann

Es war ein Mal ein kleiner Junge, der Schiffe liebte. Keine kleinen Segelboote oder Motorjachten, sondern große Schiffe, Frachter, Tanker, Schleppschiffe und all so was. Seine Sommer verbrachte er am Ufer eines großen Flusses, an dem er Tag für Tag die großen Schiffe beobachtete, die dort vorbeizogen. Bald kannte er sie alle mit Namen, er konnte sie an ihren Schornsteinen und Kränen auseinanderhalten und vorhersagen, ob sie leer oder aber mit Koks, Benzin, Salz oder Weizen beladen waren. Mit Hilfe seiner großen Schwestern nähte er sich bunte Fahnen, die den Fahnen der verschiedenen Reedereien glichen, und schwenkte sie als Gruß. Manchmal hupte das Schiff dann, um ihn zurück zu grüßen, und das war für den kleinen Jungen wie ein Geschenk. Als er 13 Jahre alt war, machte er einen Schulausflug in eine große Stadt, in der eine seiner Lieblingsreedereien ihre Büros hatte. Er schaffte es, die Reederei ausfindig zu machen, stellte sich an der Rezeption vor und bat mit schlotternden Knien und einem Kratzen im Hals um eine Fahne. Und oh Wunder, jemand ließ sich von dem kleinen Jungen beeindrucken und schenkte ihm eine echte Schiffsfahne, genau so eine, wie die Schiffe der Reederei sie am Masten trugen. Sie maß 2 x 3 m und lag während der ganzen Rückfahrt im Bus ordentlich gefaltet auf seinen Knien. Viele Jahre später – der Junge hatte inzwischen nicht ohne Kummer die Idee aufgegeben, Kapitän zu werden, war in die große Stadt gezogen und arbeitete dort in einer Branche, die am Rande ein ganz klein wenig mit Schiffen zu tun hatte – erfuhr er, dass die Reederei jemanden mit seinen Qualifikationen suchte. Also genau mit seinen Qualifikationen, als sei die Stelle nur für ihn ausgeschrieben worden. Mit pochendem Herzen schickte er seine Bewerbung los und wurde tatsächlich zwei Wochen später zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Seine Handflächen wurden nass. Er kaufte sich einen neuen Anzug, ein neues Hemd, neue Schuhe, neue Socken und zwei neue Krawatten. Er überstand das Vorstellungsgespräch und hatte anschließend ein gutes Gefühl. Fünf Tage später kam die Absage. Und da saß dann der erwachsene Mann bei Lilli am Abendbrottisch und weinte still vor sich hin. Bei genauerem Hinsehen konnte man einen 13-jährigen Jungen erkennen, dem jemand die Fahne weggenommen hatte, um darauf herumzutrampeln.

Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

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Zuletzt aktualisiert: 23. Mai, 03:27

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