Freitag, 29. Mai 2009

Rauschmittel für Kinder

Man geht davon aus, dass die Kinder Lesen und Schreiben in der Schule lernen. Das tun sie auch, früher oder später. Was sie aber nicht unbedingt in der Schule lernen, ist das Bücherlesen. Dafür sind dann schon die Eltern zuständig, und wer das erst einmal verstanden hat, sollte sich dieser Aufgabe mit genauso viel Zeit und Ideenreichtum widmen wie diese jungen Leute mit Kapuzenpulli, die in Montréal an bestimmten Straßenecken stehen und auf ein Codewort hin ein Tütchen mit weißem Pulver aus der Hosentasche ziehen, das sie für viel Geld verschachern. Jawohl, liebe Eltern: wenn Sie wollen, dass Ihr Kind liest, müssen Sie zum Pusher werden, der Ihrem Kind genau den Stoff verschafft, von dem es süchtig wird nach mehr. Lesen ist ja mehr als das Zusammenklauben von Buchstaben, als das Aneinanderreihen von Wörtern zur schnöden Informationsaufnahme, als das Sich-Schlaumachen über Abfahrtszeiten und Sonderangebote. Es ist der Einstieg in eine andere Welt, in der man fliegen oder tauchen kann, in der man schwerelos durch farbige Kreise taumelt, durch Zeit und Raum reist oder die Identität wechselt – jedenfalls in eine Welt, die losgelöst ist vom eigenen Alltag und uns eine Weile alles um uns herum vergessen lässt. Bücher sind demnach das ideale Rauschgift, da sie uns bereichern, anstatt uns auszulaugen, und wenn man erst einmal den Einstieg gefunden hat, wird man (genau wie bei Heroin) nicht mehr die Hände davon lassen können. Manchmal wird uns diese Einstiegsdroge von einem Freund in die Hand gedrückt, manchmal ist es die Bibliothekarin, die uns vor das richtige Regal schiebt, ganz selten nur der Lehrer, der die Sucht in uns entfacht. Die besten Pusher aber sind die Eltern, die sich nur an ihre eigene Kindheit zu erinnern brauchen, um allererste Ware aufzutreiben. So hat Lilli diese Woche für den großen Strolch ein Buch gekauft, das sie als guten Trip in Erinnerung hat: „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende. Leider in einer schnöden französischen Taschenbuchausgabe, in der die rote und grüne Tinte durch Fett- und Magerdruck und der glänzende rote Stoffeinband durch ein kitschiges Foto ersetzt wurde. Der große Strolch, der inzwischen schon ein Kenner ist, hat die Seiten trotzdem freudig durch die Finger gleiten lassen und gierig die Nasenflügel gebläht. Sobald er mit den leidigen "betrüblichen Ereignissen" von Lemony Snicket fertig ist (die Lilli zur Raserei bringen), wird er es sich reinziehen…

Nach-Tisch

Der kleine Strolch hat ein neues Wort gelernt – la desserte = der Serviertisch. Weil doch Lilli einen solchen aus dem Müll gezogen und unter stundenlangen Qualen renoviert hat. Er hat es aber gleich verdreht und spricht jetzt nur noch von „la table des desserts“. Die Vorstellung, diesen Serviertisch mit Nachtisch beladen vor die Nase gerollt zu bekommen, ist aber auch zu verführerisch…

Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

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Zuletzt aktualisiert: 23. Mai, 03:27

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