Samstag, 19. September 2009

Der wahre Charme von Montréal

Montréal ist eher hässlich anzusehen, vor allem für europäische Touristen, die hier nach der „historischen Innenstadt“ suchen oder der „Einkaufsmeile“ oder gar nach nennenswerten Kunstwerken, Museen, architektonischen Schönheiten oder einfach nur romantischen Sträßchen, in denen man gut bummeln kann. Nicht, dass es all dies nicht gäbe: es hält sich nur eher versteckt wie eine scheue Katze, die erst mal im Hinterhalt wartet, bevor sie sich von x-beliebigen Fremden mit einem Stadtplan in der Hand streicheln lassen würde. Manche Leute behaupten, dass man Montreal nicht zeigen kann, man kann es nur erleben, und haben damit nicht unrecht. Vielleicht muss man einfach ganz ohne touristische Erwartungen an einem Sonntag Nachmittag im Park am Fuße des Mont Royals sitzen und den Tamtams zuhören, die dort fiebrig-rhythmisch spielen, während der kleine Strolch sich bei den fliegenden Händlern ein Lederarmband mit einem eingeritzten Drachen drauf kauft. Oder vor Weihnachten im alten Hafenbecken Schlittschuh laufen, während ein Feuerwerk in die Luft steigt und Leute an einer beheizten Bar Cocktails trinken. Oder man muss einfach wie Lilli und Monsieur diesen Sommer Hand in Hand durch die Innenstadt spazieren, nachdem sie das neue Westin-Hotel ausspioniert hatten (mit Monitoren in der Eingangshalle, die die Ankunfts- und Abflugzeiten des Flughafens zeigen, sehr international), unter einem Baugerüst durchlaufen und dabei lachen, weil eine Bewegung von oben sie fürchten lässt, dass jetzt gleich etwas auf sie herunterfällt und – nachdem sie gleichzeitig und immer noch Hand in Hand auf die Seite gesprungen sind – von einem Passanten ein „Vous faites un beau couple“ („Sie sind ein schönes Paar“) zugeworfen bekommen. Ping, einfach so, wird ein kleines Kompliment gestreut wie ein Blütenblatt bei einer Hochzeit, ein Konfetti beim Kindergeburtstag. Das, liebe Leute, macht den wahren Charme von Montréal aus, nicht das neue Messezentrum, die neue Bibliothek oder der Brunnen von Riopelle, der zu jeder vollen Stunde Feuer spuckt. Es ist diese Großzügigkeit der Leute, die für den Bruchteil einer Sekunde unseren Weg kreuzen, die Augen wohlwollend statt mürrisch auf uns ruhen lassen, uns zuzwinkern und dann wieder in der Anonymität der Großstadt verschwinden. Das, und vielleicht die frischen Bagel der Rue Saint-Viateur, in die Lilli jetzt nur noch kommt, wenn sie zum Zahnarzt muss.

Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

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Zuletzt aktualisiert: 23. Mai, 03:27

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