Donnerstag, 1. Mai 2008

Lilli wird ein Opfer der Zeitumstellung

Am 8. März wurde hier in Kanada die Uhr umgestellt, wodurch es um 6 Uhr morgens wieder so dunkel war, dass ich das Laufen kurzerhand auf später verschob. Es ist schließlich eine Sache, seine Nase in die klirrende Kälte zu stecken, und eine ganz andere, dieser Kälte auch noch im Dunkeln gegenübertreten zu müssen. Ich jedenfalls tu mir das nicht an, dazu ist der Winter hier zu lang!

Aber erst loszulaufen, wenn die Strolche schon auf dem Weg zur Schule sind, entpuppte sich als Fehler. Hier der Beweis in Form einer Tagebucheintragung vom 11. März:

Um 8 Uhr 30 scheint die Sonne hell und gleißend auf den von den Räumfahrzeugen beiseite geschobenen Schnee, und mit der Wärme, die durch das Laufen in meine Glieder kommt, durchflutet mich auch die gute Laune. Komisch, solange ich noch im Haus bin, kostet es mich große Überwindung, mich zum Laufen durchzuringen, aber wenn ich erst einmal in Bewegung gekommen bin, macht es mir soviel Spaß, dass ich gar nicht mehr aufhören möchte. Mein Atem dampft vor mir her und beschlägt die Brillengläser, was damit zusammenhängt, dass ich bei jedem Schritt nach unten sehen muss, um nicht auf einer Eisplatte auszurutschen. Als ich den Kopf etwas anhebe, fällt mir auf, wie viele andere Leute bereits unterwegs sind – viele steigen gerade ins Auto, laufen zum Zug oder warten an der Bushaltestelle, und die Schüler der Privatschulen treffen sich in ihren dunkelblauen Uniformen an den Straßenecken, an denen sie der Schulbus einsammeln wird. Das schlechte Gewissen durchfährt mich wie ein Blitz – alle diese Leute sind bereits auf dem Weg zur Arbeit oder zu sonstigen rechtschaffenen Tätigkeiten, während ich noch nicht einmal geduscht habe. Hilfe, ich bin nicht im Gleichklang mit der Gesellschaft, ich hinke ihr hinterdrein! Sofort vergeht mir die Lust am Laufen und ich beeile mich, nach Hause zu kommen, um mich einzureihen in die Meute derjenigen, die die Tageslichtstunden damit verbringen, in die Tasten zu hauen und Dokumente zu produzieren (mein Sohn auf die Frage: „Was macht Deine Mutter beruflich?“ nach kurzem Nachdenken: „Sie macht Papier.“). Obwohl ich die Selbständigkeit unter anderem deshalb gewählt habe, damit mir keiner mehr meinen Tagesablauf vorschreibt, dusche ich so schnell wie möglich und husche an den Computer, als ob mein Chef schon mit strengem Gesicht und vorwurfsvollem Blick auf die Uhr daneben stehen würde. Ja, wer keinen Stress hat, der macht sich selber welchen…

Und das Laufen? Muss doch wieder früher stattfinden, Dunkelheit hin oder her.

Mittwoch, 30. April 2008

Etwas ungelenk läuft Lilli tatsächlich am nächsten Morgen los.

29. Februar 2008: Der Wecker ist geradezu eine Erlösung, denn Monsieur liegt neben mir und hustet ununterbrochen – wahrscheinlich hat ihn die Grippe jetzt auch erwischt. Draußen wird es gerade hell, und das in kanadischem Wetter geübte Auge kann abschätzen, dass es mächtig kalt sein wird. Also Skiklamotten anziehen, Schal, Mütze, Handschuhe, Stiefel. An Joggen ist so vermummt nicht zu denken, eher an ein zügiges Laufen, auch wegen der vereisten Gehwege. Ob es wohl so etwas wie Schneeketten für Turnschuhe gibt?

Um 6 Uhr 15 bin ich draußen. Vor dem Nachbarhaus steht ein schwarzer Pickup mit laufendem Motor und der Aufschrift „Der Wintergarten-Experte“. Hinter dem Steuer kann ich eine Silhouette erkennen, die einen Kaffeebecher umklammert hält. Also wird heute wieder an Nachbars Anbau weitergearbeitet und der Frühankömmling lässt Motor und Heizung laufen, während er auf seine Kollegen wartet. Es ist so kalt, dass mir beim Einatmen die Luft in den Nasenlöchern gefriert. Etwas ungelenk laufe ich los und versuche, so langsam wie möglich einzuatmen, um zu verhindern, dass mich die kalte Luft zum Husten bringt - wodurch ich erst recht außer Atem komme und zu keuchen anfange. Also Lilli, Laufen kann doch so schwer nicht sein? Nach zwei Straßenecken finde ich schließlich das richtige Atemtempo und merke, wie sich mein Körper erwärmt. Wenn ich keine dicke Daunenjacke anhätte, würde ich glatt wie ein olympischer Profi-Geher mit den Armen pendeln. Ich freue mich, schon so früh unterwegs zu sein, und komme mir vor, als hätte ich diese Zeit dem lieben Gott gestohlen. Eine halbe Stunde, in der niemand etwas von mir will, mir kein Abgabetermin im Nacken sitzt und mich auch kein Bügelbrett vorwurfsvoll ansieht, denn diese 30 Minuten habe ich mir selbst abgezwackt, aus den Rippen geschält sozusagen (also doch hergezaubert?). Als ich kurz vor 7 Uhr wieder in unsere Straße einbiege, sitzt der Wintergarten-Experte immer noch (!) mit laufendem Motor im Pickup. Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu. Wäre er lieber mit mir mitgelaufen, das hätte ihm schon eingeheizt! Ich jedenfalls bin ganz schön ins Schwitzen gekommen, obwohl ich noch lange nicht müde bin und gerne noch eine Weile weiter gelaufen wäre. Ich bin gut gelaunt, geradezu euphorisch, und habe das Gefühl, heute schon viel geleistet zu haben.

Und zwar ganz im schwäbischen Sinne, etwas richtig Vernünftiges, für das man sich nicht zu entschuldigen braucht.

Dienstag, 29. April 2008

Begonnen wird mit einem Rückblick: So sah es am 28. Februar 2008 bei mir aus...

Anfang der Woche war mein kleiner Sohn krank, seit gestern liegt der große Sohn mit Grippe im Bett und jammert. Ich jammere auch, denn seit Sonntagabend bin ich nur ein einziges Mal aus dem Haus gekommen – zum Schneeschippen. Ich sehne mich nach Bewegung und Sonne. Beim Durchsehen der Urlaubsfotos von vor zwei Wochen wird mir klar, dass es nicht nur an der niedrigen Auflösung der Bilder liegen kann, dass meine Oberschenkel neben denen meiner 18-jährigen Nichte so aussehen wie ein zusammengeknülltes Stück Küchenkrepp neben einem Pfirsich. Ich muss unbedingt mehr Sport treiben – aber wann? Wenn die Kinder nicht gerade krank sind, sitze ich den Tag über am Schreibtisch, bis meine zwei Strolche um 16 Uhr aus der Schule kommen. Danach besteht unser Programm aus Kaffeetrinken und Erzählen, Hausaufgabenmachen, Kochen, Essen, Duschen, Gute-Nacht-Geschichte Vorlesen, Geschirrspülmaschine einräumen, Wäsche zusammenlegen… vor 20 Uhr 30 ist an Sport nicht zu denken, und danach – tja, danach bin ich einfach zu müde. Vielleicht wäre der Beitritt in einen Verein die Lösung? Da gibt es schon auch Abendkurse, aber da Monsieur nie pünktlich nach Hause kommt, wäre mehr als eine sporadische Beteiligung nicht drin. Meine Oberschenkel aber schreien nach regelmäßiger Beanspruchung, deshalb muss irgendein anderes Zeitfenster freigeschaufelt werden (im kanadischen Winter dreht sich eben alles ums Schaufeln). Tagsüber, während die Kinder in der Schule sind? Jaha, habe ich probiert, klappt aber nicht. Da macht mir wohl meine schwäbische Erziehung einen Strich durch die Rechnung, denn tagsüber muss man arbeiten und Vernünftiges tun, da kann man sich doch nicht einfach Zeit für sich nehmen! Die Schwäbin in mir stemmt die Arme in die Hüften und blickt missbilligend. Außerdem fände ich doch nicht den richtigen Zeitpunkt: vor dem Mittagessen habe ich zu viel Hunger, danach bin ich zu voll, und selbst wenn ich gleich morgens die Sportklamotten anziehe und losjogge, sobald die Kinder die Haustür zugeworfen habe, denke ich an alles, was ich in dieser Zeit erledigen könnte oder sollte, und komme vor lauter Schuldgefühlen aus dem Tempo. Da ich keine neue Zeit einfach so herzaubern kann (obwohl meine Kinder das manchmal zu glauben scheinen), gibt es nur einen Ausweg: weniger schlafen. Und so entschließe ich mich dazu, ab jetzt dreimal die Woche morgens eine halbe Stunde früher aufzustehen, um mich aus dem Haus zu stehlen und zu laufen, während die zwei Strolche und Monsieur noch in den Federn liegen.

Ob ich das aushalte? Und ohne Frühstück? Das werde ich gleich morgen ausprobieren.

Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

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