So ein Durchhänger ist natürlich kein Grund, kürzer zu treten. Auf die richtige Dosierung kommt es an, und nach einem missbilligenden Kopfschütteln der Schwäbin in ihr rappelt sich Lilli nach dem Ruhetag wieder zum Morgenlauf auf. Und hatte am Wochenende danach sogar noch genügend Ausdauer für folgende Aktivität:
Am Sonntag war genau der richtige Tag für einen Ausflug mit den Strolchen ins "Paladium". Jeder hier scheint diese Institution aus seiner Jugend zu kennen, nur mir war das Phänomen natürlich gänzlich unbekannt. Es handelt sich um ein Etablissement, das von außen wie eine Eishalle aussieht, von innen auch genauso riecht, aber anstelle von Eis einen erstklassigen Parkettboden zu bieten hat. Dieser dient unter der Woche zum Bingospielen (Klapptische und -stühle waren den Gang entlang aufgestapelt und schufen so eine Atmosphäre, die ungefähr so kuschelig war wie ein Nadelkissen), samstags zum Tanzen (ein Blick an die Decke erhaschte dann auch sofort die Discokugel und Reihen von farbigen Scheinwerfern) und sonntags zum Rollschuhfahren. Dies war ja auch unser Vorhaben, und als die Strolche und ich ausreichend berollschuht waren und es geschafft hatten, den Einstieg in die dahinrasende Menge zu finden, liessen wir uns mitreissen und fuhren zwei Stunden lang zum Dröhnen der Discomusik in immer schnelleren Kreisen dahin. Ich weiß, dass man diese Momente genießen muss, denn nicht mehr lange werden meine Kinder ihre Mutter dafür cool finden, dass sie sowas mitmacht...
Jedenfalls war ich überrascht, das Rollschuhbein nach dem Energietief der Woche mit solcher Leichtigkeit schwingen zu können. Gibt es da ein Naturgesetz, so nach der Art: Je mehr Energie man verbraucht, um so mehr kriegt man wieder zurück? Anscheinend soll Sport ja sogar für die Libido Wunder wirken. Darüber werde ich mich an dieser Stelle aber nicht auslassen.
Lilli legt los - 15. Mai, 10:22
Mitte April war Lilli - vom Wechsel auf die schönen Laufschuhe beflügelt - soweit, dass sie drei Tage hintereinander zum Laufen loszog. Wieder keine gute Idee:
Hola, heute war ich schon zum dritten Mal diese Woche unterwegs. Was mich gleich zu zwei wichtigen Notizen veranlasst:
Erstens schlafe ich, seit ich mit dem Laufen begonnen habe, wie ein Stein. Also ehrlich. Die Nächte sind lang und ereignislos und werden nur selten durch Momente des Wachliegens und Problemewälzens unterbrochen. Da ich sonst keinerlei größere Änderungen meines Lebensstils vorgenommen habe und immer noch gerne abends die eine oder andere Tafel Schokolade zu mir nehme, führe ich diese positive Wendung direkt auf das Laufen zurück. Was wiederum den Nachteil hat, dass ich es morgens nicht mehr ganz so leicht finde, gleich beim Klingeln des Weckers aus den Federn zu hüpfen.
Zweitens pfiff ich heute morgen während des Laufens mit Verlaub gesagt auf dem letzten Loch. Drei Tage hintereinander zu laufen scheint über meine Kräfte zu gehen – und auch die Knie machen sich jetzt trotz Absolvierung mehrerer kreiselnden Aufwärmübungen heute morgen zum ersten Mal bemerkbar.
Fazit: Wer viel läuft, soll auch viel ruhen... nach zwei Lauftagen wird jetzt ein Ruhetag eingeschoben, zumindest bis ich besser durchtrainiert bin oder einen Gehweg finde, der ganz und gar mit Moos überzogen ist.
Lilli legt los - 13. Mai, 10:07
Nur eine Muttertagskarte vom kleinen Strolch, eine wunderschöne. Je t’adore, je t’aimerai toujours, große Worte für so einen kleinen Kerl. Nix vom großen Strolch, da hatte wohl seine Lehrerin keine Lust, mit der Klasse noch zusätzlich zum normalen Programm einen Muttertagstext zu schreiben. Zuerst war ich darüber enttäuscht, dann ging ich Laufen und kam dabei zu der Erkenntnis, dass Kinder uns sowieso nur als Mutter lieben können, also als Institution, nicht aber als Person, und dass man das von ihnen auch gar nicht verlangen sollte. Sie sehen in uns die Versorgerin, die Seelsorgerin, nicht aber den Menschen, der sich vielleicht mit Fragen herumquält, Zweifel hegt oder liebend gern Mezzosopran geworden wäre… Fragt man später mal meine Kinder, wie ihre Mutter war, werden sie vielleicht (wenn ich Glück habe) erzählen, dass ich Maultaschen für sie machte und Pippi Langstrumpf vorlas, oder aber (im schlimmsten Fall), dass ich sie unterdrückte oder die Freude am Essen durch ständiges Triezen mit guten Tischmanieren auf immer vergällt habe. Jedenfalls wird ihr Bericht Lücken aufweisen, und das ist vielleicht auch gut so, denn Kinder sind nun mal nicht Freunde oder Liebhaber und sollten deshalb auch nicht zur Erfüllung der Bedürfnisse ihrer Mutter nach Anerkennung und Liebe herangezogen werden. Sie sollen ja gar nicht alles wissen. Oder vielleicht erst sehr viel später, wenn sie selbst einmal erwachsen sind. Erst dann werden sie vielleicht erkennen, was es heißt, Eltern zu sein, und dann erst werden sie sich so richtig bedanken können – nicht für die Maultaschen, wohl aber für den ganzen Rest.
Nächstes Jahr schicke ich die Strolche vielleicht am Muttertag mit Monsieur eine Weile fort, damit ihre Mutter mal Zeit hat, Mensch zu sein. Und danach wieder liebend gern Mutter ist und statt Karten mit hochtrabendem Text lediglich verlangt, fest in klebrige Arme geschlossen zu werden.
Lilli legt los - 12. Mai, 10:32
Am 1. April 2008 sind die Gehwege in und um Montréal endlich eisfrei und laden Lilli zum Schuhwechsel ein:
Es ist kaum zu glauben, wie schmutzig die Schneereste sind, die sich immer noch zu beiden Seiten der Straßen auftürmen. Immerhin ist das Eis auf den Gehwegen weggetaut, es nieselt heute morgen ein bisschen und zum ersten Mal seit Beginn des Lauftrainings stecken meine Füße in schön gepolsterten Laufschuhen. Denn so gut das Laufen auch für Beine und Po sein mag – für die Kniegelenke ist das ständige Hämmern jedenfalls belastend, soviel habe ich jetzt schon festgestellt. Wer damit Schwierigkeiten hat, sollte auf alle Fälle in einen gut abfedernden Schuh investieren (oder besser noch in zwei! ha, ha). Auch ein paar Aufwärmübungen können nicht schaden, wenn ich mir auch sehr komisch dabei vorkomme, auf dem Gehweg vor dem Haus die Knie und Fußgelenke kreisen zu lassen. Gut, dass es immer noch nicht ganz hell ist… Im Prinzip wäre es natürlich viel besser, auf einem moosigen Waldweg zu laufen, aber dazu müsste ich mich ins Auto setzen und mindestens eine Viertelstunde fahren – kommt leider aus Zeit- und noch ein paar anderen Gründen nicht in Frage. Ja, Württembergs fruchtbare Felder und liebliche Weinberge (lese gerade Wilhelm Hauffs "Lichtenstein", deshalb der Anflug von Lyrik) sind leider weit entfernt. Also wieder durch die Nachbarschaft, wobei mir die immer gleiche Route so langsam langweilig wird. Es ist zwar ganz unterhaltsam, den Leuten in die erleuchteten Küchen zu schauen und beim Frühstücken zuzusehen, aber irgendwie verführt die allzu bekannte Strecke dazu, das Tempo schleifen zu lassen. Ich werde mir eine neue Strecke aussuchen müssen – vielleicht sogar eine etwas längere, die ich dann in der gleichen Zeit (und deshalb mit höherer Geschwindigkeit) bewältigen muss.
Immer muss man sich überbieten, um nicht auf der Stelle zu treten, das scheint beim Laufen nicht anders zu sein als im richtigen Leben.
Lilli legt los - 8. Mai, 09:45
Morgens beim Laufen treffe ich immer die gleichen paar Leute – die Frau mit dem weißen Mantel, den Schlurfe-Teenager im Kapuzenpulli und den älteren Herrn mit dem lustigen Hütchen. Als ich vor vielen Jahren in London mein Praktikum machte, stieg ich morgens, um mir das Busgeld für eine Zone zu sparen, eine Haltestelle früher aus und marschierte gute 15 Minuten bis in die Agentur. Auf diesem Weg kam mir auch täglich der gleiche junge Mann entgegen – rothaarig, mit Bürstenhaarschnitt und Tweedjacke. Was hätte sich da für eine schöne Liebesgeschichte anbahnen können, denn nach einer Woche fingen wir an, einander zuzulächeln und schließlich sogar zu grüßen. Normalerweise begegnete ich ihm auf der Höhe einer Schule, die mit riesigen Eichen und einer Backsteinmauer umgeben war, auf der ein Schild mit dem Hinweis „Do not loiter“ angebracht war. Es dauerte lange, bis ich kapierte, was dieser Hinweis bedeutete, und bis heute komme ich nicht drauf, wie man ihn ins Deutsche übersetzen könnte: „Herumlungern verboten“, so ein Schild gibt es doch bestimmt in Deutschland nicht? War ich früher dran, traf ich den Rothaarigen beim Pub, und wenn ich später dran war, begegneten wir uns weiter vorne beim Blumenladen. War ich wiederum pünktlich, konnte ich an unserem Treffpunkt erkennen, ob er seinerseits früher oder später dran war als sonst – ein wahres Lehrstück der angewandten Relativität. Sechs Monate lang ging das so von Montag bis Freitag, und als mein letzter Praktikumstag gekommen war und ich mir fest vorgenommen hatte, zur Feier des Tages ein paar Worte mit ihm zu wechseln und mich von ihm zu verabschieden, da tauchte er einfach nicht auf. Fehlanzeige. Nix. Ob er an diesem Tag mit Grippe im Bett lag, sich beim Zähneputzen den Finger verstaucht hatte oder aber dabei war, seine Sandkastenfreundin zu heiraten – ich werde es nie erfahren, und genau in dieser Unvollendetheit liegt meiner Meinung nach der Reiz dieser Erinnerung.
Verliebt habe ich mich übrigens in einen anderen, damals in London. Er war aus Kanada und taucht hier ab und zu unter dem Decknamen „Monsieur“ auf…
Lilli legt los - 7. Mai, 09:17
Prompt wurde der kleine Strolch wieder krank (der kanadische nichtexistierende Frühling ist ein wunderbares Klima für Viren, die nach den Strapazen des langen Winters ein leichtes Spiel mit ihrer Beute haben) und fesselte Lilli an sein Bettgestell:
28. März 2008: Da wurde mir mal wieder klar, worin die Schönheit des morgendlichen Laufens liegt. Wer noch vor dem Frühstück läuft, hat dieses Pensum schon mal sicher, egal, was der Tag dann noch an Überraschungen bereithält. Heute kam ich mir vor wie aus einem Käfig befreit, als ich durch das halbgeöffnete Garagentor nach draußen kroch, um beschwingt die immer gleiche Tour anzutreten. Sobald ich mir einigermaßen eingeheizt hatte, fing ich mit dem Nachdenken an und blieb bald bei dem fiebrigen Strolch hängen. Während ich mir klarzuwerden versuchte, ob nun ein Arztbesuch angebracht sei oder nicht (Arztbesuche bedeuten, zwischen vier und sechs Stunden in einem mit hustenden und schniefenden Leuten überfüllten Wartezimmer zuzubringen, um sich letztendlich sagen zu lassen, dass es doch ein Virus sei und keinerlei Behandlung bedürfe. Eine befreundete Kinderärztin erzählte mir sogar, dass die Eltern geradezu enttäuscht sind, wenn es keine "richtige" Krankheit ist und sie noch nicht mal ein Rezept mit nach Hause kriegen - als ob es ihnen lieber wäre, wenn ihr Kind eine ordentliche Lungenentzündung hätte, die mit massiven Antibiotika behandelt werden müsste. Da weiß man doch wenigstens, woran man ist, während so ein Virus irgendwie unbefriedigend ist...), fiel ich unbemerkt in einen gemächlichen Spazierschritt, der weit von dem üblichen flotten Marschtempo entfernt war. Bis mir mein Schneckentempo auffiel, war so viel Zeit vergangen, dass ich die Kadenz ganz schön beschleunigen musste, um rechtzeitig wieder zurück zu sein. Schließlich musste doch der große Strolch für die Schule geweckt und der kleine Strolch mit dem Fieberthermoter getriezt werden! Ach herrje, wenn die Mama nicht da ist, bricht die ganze Morgenroutine zusammen.
Fazit: Als Mutter darf man sich nicht gehen lassen, noch nicht mal beim Laufen.
Lilli legt los - 6. Mai, 10:00
Kurz darauf verhandelt Lilli mit der Schwäbin in ihr (die nicht viel Spaß versteht, oh nein!) und erreicht doch tatsächlich, dass sie guten Gewissens ins Fitnessstudio gehen kann, wenn sie vorher beide Bäder putzt. Gedacht, getan, und dies kam dabei raus:
19. März 2008: Hier in Montréal gibt es Fitnessstudios, die rund um die Uhr geöffnet sind. Da würde sich ein Besuch schon aus soziologischen Gründen lohnen, denn wer geht denn bitte nachts um vier an die Geräte? Schlaflose Mütter, Hotelpersonal oder Hells Angels, die sich tagsüber bedeckt halten müssen? Mein Studio jedenfalls hat ganz unspektakuläre Öffnungszeiten, wird von der Gemeinde betrieben und von freiwilligen Helfern betreut, die als erstes, wenn sie ihren Dienst antreten, das Musikprogramm auf ihre persönliche Vorlieben abändern. Am Schrillsten ist dann das Klassikprogramm von CBC, dem englischsprachigen staatlichen Sender, bei dem sich Vivaldi und Konsorten mit Staumeldungen abwechseln. Der Sprecher bricht sich bei der Aufzählung der französischen Straßennamen jedesmal fast die Zunge ab: heavy traffic on Décarie, especially at the Turcotte exchange, Bonaventure and de la Vérendrye - oh boy. Nach 20-minütigem Lauf auf dem Laufband wechsele ich über zu den Gewichten und merke, dass meine Arme vom Spiegelputzen und Duscheauswischen (gibt es bessere Dehnübungen?) doch schon vorbelastet waren. Es zieht und zwickt und ist auch eigentlich ziemlich langweilig, immer diese Geräte auf- und abzubewegen, aber ich halte durch. Die Belohnung kommt zum Schluss, wenn ich auf dem Halbliegeergometer sitze (heißt das wirklich so? Es sieht jedenfalls aus wie ein Fahrrad mit Rückenlehne und ist das einzige Gerät, auf dem ich gleichzeitig trainieren und Zeitschriften lesen kann, die ich nie abonnieren würde). Da erfahre ich endlich, dass Cameron Diaz viel Gemüsesuppe isst (ich auch!) und Claudia Schiffer ihren Tee mit Honig süßt. Kuchen essen die Promis anscheinend nicht, dafür Nüsse, Beeren, Fisch und Spinat.
Mir fällt auf, dass ich schon lange keinen Apfelkuchen mehr gebacken habe, und nehme mir vor, das gleich am Wochenende nachzuholen. Mit Sahne.
Lilli legt los - 5. Mai, 10:42
Eine Woche später zeigt der dunkle Himmel morgens an einer Ecke schon einen blauen Fetzen. Mutig ziehe ich los. Ich bin froh, wieder früh unterwegs zu sein und nicht das Gefühl zu haben, mitten am Tag etwas Unanständiges zu tun.
Bald stellt sich wieder das beglückende Gefühl ein, einen harmonischen Rhythmus gefunden zu haben und nicht mehr an das eigentliche Gehen und Atmen denken zu müssen. Ab da kann ich meine Füße vergessen und meinen Gedanken freien Lauf lassen. Das Gehen scheint dem Kopf gut zu tun, denn die Ideen und Überlegungen kommen schön ordentlich daherspaziert, ohne sich – wie es sonst oft der Fall ist – zu hetzen oder im Kreis zu drehen. Vieles erscheint in einem neuen Licht oder ordnet sich mühelos, wo zuvor Unklarheit herrschte. So lasse ich zum Beispiel die Auseinandersetzung mit dem großen Strolch vom Abend zuvor Revue passieren und überlege, ob ich wohl richtig reagiert habe. Eine Straßenecke weiter komme ich zur Einsicht, vielleicht doch etwas zu wütend geworden zu sein. Grenzen setzen und auf deren Einhaltung bestehen, ohne sich dabei aufzuregen oder das Strolchverhalten als persönliche Beleidigung zu sehen, das ist die große Kunst der guten Mutter, die ich so gerne sein möchte. Ich laufe und laufe, und ohne mir der Zeit bewusst zu sein, biege ich pünktlich wieder in unsere Straße ein. Meine Zunge liegt mir wie ein schwerer Brocken Knetmasse im Mund – nächstes Mal muss ich unbedingt ein paar Schluck trinken, bevor ich loslaufe, sonst habe ich das Gefühl, auf der Strecke auszudörren. Inzwischen ist es richtig hell, und mit der Helligkeit kommt eine große Portion Optimismus über mich. In zwei Minuten werde ich unter der Dusche stehen, danach die Strolche aufwecken und ihnen trotz des gestrigen Streits liebevoll und fröhlich gegenübertreten.
Es wird ein schöner Tag werden, da bin ich mir ganz sicher.
Lilli legt los - 2. Mai, 09:58