Der große Strolch kommt wimmernd nach Hause, schmeißt seinen Schulranzen in die Ecke und stößt hervor, was keine Mutter hören will: „Mama, es ist was Schlimmes passiert!“ Ogottogottogott, denkt Lilli panisch und will sofort wissen, was denn nun. „Heute kamen die Antwortbriefe aus Burkina Faso – und meiner war nicht dabei!“ Großer Schluchzer des großen Strolches, Erleichterungsseufzer von Lilli. Es gab also lediglich ein Problem bei der Zustellung des Briefes eines Kindes aus Afrika, das im Rahmen eines Klassenprojekts dem großen Strolch hätte schreiben sollen. Kein Beinbruch, keine Schießerei, kein Erstickungsanfall, keine Entführung direkt aus dem Schulhof. Lilli nimmt den großen Strolch in die Arme und streicht ihm über den Rücken. „Das ist doch nicht schlimm, das ist höchstens eine schlechte Neuigkeit“, versucht sie ihn zu trösten. Und merkt, dass ihre haarspalterische Semantik ihn kein bisschen tröstet. Erst, als er vor einem Glas Milch und einer Zimtschnecke sitzt, sieht die Welt für ihn wieder ein bisschen fröhlicher aus. Und erst, als Lilli abends ins Bett geht, denkt sie noch einmal über die Wortwahl des großen Strolches nach und darüber, dass er eigentlich doch recht damit gehabt hatte. Vielleicht ist ein fehlender Brief für Lilli nicht schlimm – es stimmt ja, dass in ihrer Erwachsenenwelt täglich weit füchterlichere Dinge geschehen -, für den großen Strolch aber war es das passendste Wort, das er finden konnte. Der Schlimmheitsgrad eines Ereignisses ist wohl, genau wie Zeit, Wassertemperatur, die Schönheit von Scarlett Johansson und die Größe einer Tafel Schokolade, subjektiv... und Lilli nimmt sich vor, in Zukunft mit ihren Kindern mehr Einfühlungsvermögen und weniger Semantik zu betreiben.
Lilli legt los - 25. Mai, 13:02
…wird Kieferorthopäde, denkt Lilli so vor sich hin, während sie auf einem weichen weißen Lederstuhl im Wartezimmer sitzt und die vielen Porträtfotos ansieht, die sie von der Wand mit perfekt geraden Zähnen anlächeln. In einer Welt, in der der erste Eindruck von so großer Wichtigkeit ist und Schönheit schneller erfasst werden kann als Intelligenz, kommt man um die Drähte im Mund nicht herum – nicht der große Strolch, der „nur“ normal schiefe Zähne hat, und schon gar nicht der kleine Strolch, dem gleich mehrere zweiten Zähne zu fehlen scheinen. Lilli seufzt und tastet nach ihrem Scheckbuch.
Lilli legt los - 22. Mai, 12:38
Heute zum Beispiel: eine Schüssel voll Cheerios zählen – ZÄHLEN! Damit die Gäste beim Geburtstagsfest des großen Strolches am Samstag raten können, wie viele Cheerios er denn nun täglich zum Frühstück verschlingt. Wer am nächsten dran ist, bekommt eine Tüte Gummibären.
Lilli legt los - 20. Mai, 12:53
Es ist unglaublich befriedigend, hölzerne Gartenmöbel abzuschleifen und frisch zu beizen. Anstrengend, da man anfangs unterschätzt, wie viele Stäbe so eine Rückenlehne haben kann, aber in einem Maße befriedigend, dass Lilli sich wundert, ob sie auf ihre alten Tage nicht doch noch eine Schreinerlehre machen soll. Allerdings hat Lilli jetzt dunkelbraun gebeizte Fingernägel und muss morgen so mit dem kleinen Strolch zum Kieferorthopäden. Das sind Probleme, die beim Übersetzen generell nicht auftauchen.
Lilli legt los - 19. Mai, 20:38
Wer in London U-Bahn fährt, wundert sich anfangs über die theatralisch-eindringliche Durchsage „Mind the gap!“, die kurz vor Einfahrt des Zuges über die Köpfe der wartenden Passagiere dröhnt. Damit sollen die Passagiere gewarnt werden, doch bitte beim Betreten des Zuges nicht in die Spalte zwischen Bahnsteig und U-Bahn zu fallen. Genau so einen Spalt (um nicht zu sagen Abgrund) hat Lilli jetzt auch zwischen Krankenhaus-Fernsehserien und der öden Wirklichkeit eines Wartezimmers für kleinere Eingriffe des städtischen Krankenhauses entdeckt. Wo bitte sind die schönen Krankenschwestern, die gütig oder auch raubeinig, aber immer heroisch wirkenden Ärzte, die sexy Assistenten, das ganze Adrenalin? Wo die netten Damen mit dem Kaffee und den Muffins? Wo die kalten Schönheiten der Direktion, die mit Akten unter dem Arm durch die Gänge stöckeln? Und die lieben Ärztinnen, die mitfühlend die Hand auf den Vorderarm legen und tröstende Worte finden, als warteten nicht noch 10 andere Patienten auf sie? In diesem Wartezimmer jedenfalls gab es nur müde wirkendes Personal in blässlichem Grün, müde Patienten, die allesamt längst einmal zum Friseur gehört hätten, und müde Ärzte, die die Patienten mit müder Stimme aufriefen, als stünde hier nicht eine Magenspiegelung, sondern die Reparatur eines Staubsaugers bevor. Der kalte Frühlingsregen, der an die nicht vorhandenen Fenster klatschte, und die Neonröhren an der Decke trugen das ihrige dazu bei. Insgesamt war das Erlebnis so nichtssagend wie ein Papiertaschentuch und so monoton wie eine U-Bahnfahrt von Holborn nach Cockfosters. Da sieht man mal wieder, dass man nicht alles glauben darf, was so im Fernsehen kommt.
Lilli legt los - 18. Mai, 18:44
Es ist eine Wohltat, seine Kinder einmal in ihrem normalen Schulalltag beobachten zu können – wie sie sich innerhalb der Gruppe verhalten, ob sie wohl von Freunden umringt oder einsam durch den Tag gehen, wie interessiert sie mitmachen und vor allem, wie beruhigend normal sie doch im Vergleich zu ihren Altersgenossen sind. Gibt es Kinder, die noch hampeliger oder unaufmerksamer sind als unsere oder durch ihre blöden Bemerkungen schlichtweg als unangenehm auffallen, ist man doch sehr sehr dankbar für das Exemplar, das der liebe Gott uns in die Arme gelegt hat. Und etwas beschämt, manchmal mit ihnen zu hadern wegen Kleinigkeiten, die – wie wir alle wissen – keinen großen Geist stören.
Lilli weiß auch, dass dieses Gefühl noch tausendmal intensiver ist, wenn man im obigen Experiment „Schule“ mit „Kinderkrankenhaus“ ersetzt.
Lilli legt los - 15. Mai, 10:40
Vier Stunden lang war Lilli gestern in einem dieser Einkaufszentren, die viele hundert Läden unter einem Dach vereinen. Ihre Mission war vielfältig – ein paar neue Klamotten für jeden Tag finden, ein paar bürotaugliche Sachen, ein paar Geschenke für den großen Strolch, eine Ersatzkrawatte für den Kollegen, den Monsieur mit Rotwein überschüttet hat und ein schönes-schickes-wenn-auch-nicht-allzu-gewagtes-denn-man-muss-damit-auch-in-die-Kirche-gehen-können Kleid für den großen Anlass in Deutschland. Ungelogen: Lilli hat das Kleid nach den vier Stunden tatsächlich gefunden – im ersten Laden, durch den sie zum Schluss erschöpft wieder auf den Parkplatz wollte. Auf dem einzigen Ständer, den sie wohl bei ihrem ersten Besuch gleich am Morgen übersehen hatte. Schön. Jetzt fehlen nur noch passende Schuhe, vielleicht eine Jacke und, ach ja, neue Oberarme.
Lilli legt los - 14. Mai, 09:03
Seit Lilli weiß, dass sie im Sommer nach Deutschland fliegt, träumt sie irres Zeug. Man kann noch so lang von dem Ort, an dem man aufgewachsen ist, und von den Menschen, die einen geprägt haben, fort sein, man trägt sie doch mit sich herum und verbindet innigste Gefühle mit ihnen. Letzte Nacht zum Beispiel träumte Lilli, dass sie mit ihren Eltern eine Stadtbesichtigung macht und wie wild fotografiert. Kirchtürme, Häuserfassaden, Springbrunnen… aber als sie versucht, ihre Eltern abzulichten, streikt ihre Kamera. Panisch drückt sie auf die Knöpfe, schüttelt den Apparat, wischt die Linse sauber – ohne Erfolg. Es gelingt ihr nicht, auch nur ein einziges Bild ihrer Eltern in den Kasten zu bekommen.
Natürlich ist sonnenklar, was dieser Traum bedeutet. Lillis Eltern sind 75 und ziemlich gesund, aber Lilli befürchtet trotzdem insgeheim, sie bald nie wieder besuchen zu können. Und es ist diese Möglichkeit, sie zu besuchen, die so beruhigend ist, wenn Lilli davon auch nur etwa alle zwei Jahre Gebrauch macht. Allein der Gedanke: "Wenn ich wollte, könnte ich gleich morgen..." ist tröstlich. Irgendwann einmal wird Deutschland aber kein Urlaubsziel mehr sein, weil keine Eltern mehr zu besuchen sein werden. Kein Umarmen mehr, nirgends. Lillis Unterbewusstsein hat jetzt schon Angst davor.
Lilli legt los - 13. Mai, 08:48
Lillis früherer Boss, ein kreativer Mensch, mit dem sie sich nicht gut verstand, verbrachte lange Wochen damit, Texte zu schreiben. Er war dann nicht besonders ansprechbar und begründete seine mentale Abwesenheit mit den Worten: „Je suis en écriture“ – eine etwas seltsame Formulierung, die das Schreiben mit einem Ort gleichsetzt, so wie man etwa sagt „Ich bin in Finnland“ oder „Ich bin in Hawaii“. Vor kurzem hat Lilli ein altes Projekt wieder hervorgeholt, das bei näherer Hinsicht zu weit fortgeschritten ist, um es nicht auch zu vollenden. Außerdem hat sie gerade eine Auftragsflaute Zeit, weshalb sie sich vorgenommen hat, von nun an jeden freien Nachmittag mit Schreiben zu verbringen. Und komischerweise versteht sie jetzt, was ihr damaliger Boss mit seiner Formulierung meinte. Das Schreiben ist tatsächlich ein einsames Vergnügen, oder vielmehr richtige harte Arbeit, bei der man der leeren Bildschirmseite entsetzlich allein ausgeliefert ist. Wenn das Schreiben aber fließt, versinkt die Welt um einen herum und macht Platz für ein neues Land, das man selbst erfunden hat. Erst, wenn die Strolche nach der Schule an der Tür klingeln, kommt Lilli wieder zurück an ihren Schreibtisch – mit der deutlichen Empfindung, sich tatsächlich woanders aufgehalten zu haben. Ihre Tage werden dadurch richtiggehend ereignisreich, wenn sich auch von außen betrachtet rein gar nichts zugetragen hat.
Lilli legt los - 12. Mai, 15:32