"Du hast es gut, du kannst heute daheimbleiben und wir müssen in die Schule", sagt der grosse Strolch. "Ich bin aber krank", sagt Lilli. Sie verbringt den Tag über im Bett, ohne diesen Luxus auch nur das kleinste bisschen geniessen zu können. Dann sind die Strolche auch schon wieder da. "Hast du meinen Schal gewaschen", will der grosse Strolch wissen. "Nein, ich war heute krank", sagt Lilli nachdrücklich. "Und was gibt es zu essen?", fragt der kleine Strolch. "Da müsst ihr selber mal schauen, denn ich war heute KRANK", wiederholt Lilli störrisch. Das Konzept der funktionsuntüchtigen Mutter scheint ihnen absolut nicht in den Kopf zu wollen, selbst wenn diese im Bett liegt und aussieht wie ihr eigenes Gespenst. "Meine Lebensleiste ist fast auf Null", vielleicht hätten sie das eher kapiert.
Lilli legt los - 12. Mär, 10:00
Der kleine Strolch hat jetzt ein Schlagzeug. Was man nicht alles tut, um die Kinder vom Computer wegzubringen...
(Immerhin ein E-Schlagzeug. Wenn er seine Kopfhörer aufhat, klappert es nur ein bisschen.)
Lilli legt los - 11. Mär, 14:25
"Ein Kuchen ganz ohne Mehl", das ist nicht unbedingt ein Verkaufsargument für Lilli, aber die Kreation aus Mandeln, Eier und dunkler Schokolade, die ihr im Salon Cardinal vorgesetzt wurde, war himmlisch. In Montréal machen immer mehr Tee-Salons auf, die in englischem Ambiente aus altmodischen Tassen mit Goldrand Earl Grey und Irish Breakfast ausschenken, wahlweise mit Milch und Zucker oder mit Zitrone. Dazu gibt es diverse Sandwiches und Kuchen, nicht so Blätterteigzeug wie in den Kaffees oder etwa teigige Muffins, sondern Zitronencremestückchen, Scones und Mürbteigkekse. Und, wie gesagt, die Ohne-Mehl-Kreation, die Lilli jetzt trotz vier Tassen Tees wie ein Ziegelstein im Magen liegt. Sind Nachmittagsschläfchen eigentlich auch die feine englische Art?
Lilli legt los - 7. Mär, 16:01
"Kind, was tut man sich für Erinnerungen an", hatte Lilli mal vor Urzeiten aus einem Roman in ihr Zitatenbüchlein notiert. Ja, wenn das Leben gut ist, muss man später mit den Erinnerungen an diese gute Zeit leben, sie widerkäuen und das Vergangene als grossen Verlust empfinden. Wer das Glück hatte, Grosses zu erleben, steht nachher mit leeren Händen da und ist sich dieser Leere schmerzhafter bewusst als jemand, der überhaupt nie auf den Wolken der Seligkeit segeln durfte. Trotzdem kann man nicht wünschen, nie glücklich gewesen zu sein, nie geliebt zu haben, nur seicht vor sich hingeplätschert zu sein, das kann nicht erstrebenswert sein im Leben, oder??
Und das alles nur, weil Lilli gestern den grossen Strolch zu Freunden gefahren hat, die ihn ein paar Tage mitnehmen zum Skifahren. Der grosse Strolch ist glücklich, die Freunde sind glücklich, Lilli ist glücklich für den grossen Strolch. Und fährt allein nach Hause, manchmal auf den leeren Beifahrersitz schielend, und sagt sich, dass das Leben so kommen muss.
Lilli legt los - 6. Mär, 10:19
Lilli ist derzeit etwas unzufrieden. Sie sucht nach einem Urlaubsziel und findet nichts. Das heisst, nichts, was nicht bei mindestens einem Familienmitglied auf Unwillen stösst. Bermudas? Sollen gar nicht so toll sein angeblich. Florida? Zu heiss. Noch weiter in den Süden? Da ist dann garantiert Regenzeit. Westküste? Zu langer Flug. Europa? Die Zeitumstellung! Und irgendein einsamer See in Québec? Ja, wenn die Mücken nicht wären und man Garantie auf Sonnenschein hätte. Herrgott, wie kann man nur solche Probleme haben?
Heute morgen sitzt sie nun zwei Stunden im Wartezimmer des Krankenhauses, während Monsieur eine Darmspiegelung über sich ergehen lässt. Irgendwie scheint es ihr lange zu dauern. Und wenn das nun nicht normal ist? Wenn das bedeutet, dass sie was gefunden haben? Sie stellt sich vor, wie sie ins Untersuchungszimmer gerufen wird und der Doktor sagt: "Madame, Ihr Mann hat Krebs." Dass er nur noch sechs Monate zu leben habe und am besten gleich stationär eingeliefert werden sollte. Wie ihr dann das Urlaubsziel schnuppe wäre! Dann gäbe es gar keinen gemeinsamen Urlaub mehr, nur noch Leiden und Schmerzen ohne Ende. Wie sie sich dann lächerlich vorkommen würde mit ihren Reiseplänen, ihren Überlegungen über Temperaturen, Flugzeiten und Schnaken....
Monsieur kommt in hellblauem Krankenhaushemd auf sie zu und lächelt. "Alles in Ordnung", sagt er, bevor er sich umziehen geht. Lilli beschliesst, die Urlaubsfrage erst mal bis in den April hinein zu vertagen.
Lilli legt los - 5. Mär, 14:12
Gestern abend waren Lilli und Familie bei
Montréal en lumière, einem - ja, wie soll man es nennen? - Strassenfest mit elektronischer Musik und Lichteffekten, das der Kälte im Februar trotzt und Massen von Leuten anzieht, die bibbernd Riesenrad fahren, durch einen Eiskanal rutschen und sich anschliessend zum Aufwärmen in die umliegenden Museen drängen, die für diesen Anlass die ganze Nacht über geöffnet sind. Hauptattraktion dieses Jahr war der Film "The clock" von Christian Marclay, der Ausschnitte von Filmen, auf denen die Uhrzeit zu sehen ist, zu einem 24-stündigen Werk zusammengeschnippelt hat. "Sehen wir mal, wie spät es ist", sagte Lilli und suchte nach dem Vorführraum im Musée des arts contemporains, denn die Vorführung des Films ist so abgestimmt, dass am Bildschirm die Echtzeit zu sehen ist. Hunderte von Menschen standen dort schon Schlange, um es ihr gleichzutun. Nach 35 Minuten Wartezeit war noch nicht abzusehen, wann sie es schaffen würden, einen Blick auf den Film zu erhaschen. "Manche Leute bleiben die ganze Nacht über hier", meinte der Wärter und schätzte die verbleibende Wartezeit auf eineinhalb Stunden. Da ging die Familie dann doch lieber einen Hotdog essen.
Lilli legt los - 2. Mär, 11:34
Wenn Kinder in der Schule Uniform tragen, wird "bunte" Kleidung plötzlich aufgewertet. So war der grosse Strolch heute samt Eltern zu einer Sportgala in der Schule eingeladen, um die Ergebnisse der Footballmannschaft zu feiern. Kleidervorschrift: Uniform oder Strassenanzug. Ohne Lilli auch nur ein Wort davon zu sagen, hatte der grosse Strolch tatsächlich ein blaues Hemd mit in die Schule genommen, um sich vor dem Ereignis umziehen zu können, genau wie seine Mitschüler übrigens. Sie sahen gleich so anders aus, dass Lilli und Monsieur Schwierigkeiten hatten, diese schlaksigen Jungs, die sie letzten Herbst auf dem Footballfeld beklatscht hatten, wiederzuerkennen. Anstatt übereinander zu fallen und sich Bälle aus den Händen zu reissen, standen sie um die Tische mit Häppchen und Sprite herum, sahen ab und zu zu ihren Eltern herüber, strichen sich die Haare aus den Augen. Nächstes Jahr werden sie in eine neue Altersstufe aufsteigen, in der sie die Jüngsten sein werden. Ausgerenkte Schultern und Gehirnerschütterungen sind deshalb vorprogrammiert. Die Jungs scheint das nicht zu stören, im Gegenteil, sie halten es für Heldentum, während die Trainer mit Wörtern wie Beharrlichkeit, Über-sich-selbst-Hinauswachsen und Teamgeist um sich werfen. Noch ein paar Wochen hat der grosse Strolch Bedenkzeit, dann wird die Mannschaft das Feld stürmen, das noch leicht vereist unter ihren Schritten knirschen wird.
Lilli legt los - 28. Feb, 10:05
Es ist Donnerstagabend, aber Lilli hat morgen frei, weshalb es ihr eher nach Freitagabend zumute ist. Was heisst: Pizza und Film, bitte beides auf dem Sofa im Wohnzimmer serviert, bis ihr vor Müdigkeit die Augen zufallen. Wenn sie nur jemand füttern würde, damit sie ihre Arme unter der Wolldecke lassen kann.
Lilli legt los - 21. Feb, 10:00