Reise in den Abgrund

Montag, 10. November 2008

Krebs und grauer Star

Lilli trifft sich mit einer Freundin zum Mittagessen, die aus ihrem reichen persönlichen Erfahrungsschatz schöpft, um Lilli ein paar Tipps zu geben, wie sie mit Monsieur am besten umgehen sollte (ihn hegen und pflegen oder lieber gleich doch erwürgen?). Etwas hilflos bringt Lilli Beispiele von Situationen an, bei denen leichter Groll in ihr aufsteigt: z.B. Samstag vormittags, wenn sich Monsieur nach dem Frühstück wieder hinlegt und sie nicht weiß, wie sie es gleichzeitig zum Karatekurs des kleinen Strolches und in den Supermarkt schaffen soll. „Wenn er Krebs hätte, würdest Du ihm dann vorwerfen, dass er im Bett liegt?“ Hm. Und wenn er die Strolche abwimmelt, die zu ihm ans Bett kommen, um ihm das letzte Diktat oder das neueste Bild (zwei Punkstrolche, die in einer Band spielen – der große Punk haut eine elektrische Gitarre auf den Boden, der kleine Strolch verschwindet fast hinter einem fünfteiligen Schlagzeug) zu zeigen? „Stell Dir einfach vor, er hätte grauen Star. Das kann man zwar operieren, aber bis dahin kann er einfach nichts sehen. Er kann es einfach nicht.“ Lillis Freundin muss wissen, wovon sie redet, sie war schliesslich selbst einmal in Depri-Land. Also Krebs und grauer Star… dann ist Monsieur ja wirklich krank. „Aber zum Glück eine Art von Krebs, die gut wieder abheilt.“ Komischerweise ertappt sich Lilli dabei, wie sie sich wünscht, dass eine Depression zumindest einen Hautausschlag auslösen würde – rote Pünktchen, grüne Blattern oder wenigstens kleine lila Blümchen am Bauch. Wenn sie es SEHEN könnte, könnte sie wahrscheinlich leichter damit umgehen.

Mittwoch, 5. November 2008

Lilli hat recht

Wer mit einem depressiven Menschen zusammenlebt, riskiert natürlich, sich anzustecken und die gleiche negative Haltung (nichts ist mehr wichtig, alles ist ausweglos) an den Tag zu legen. Oder die eigenen Probleme oder Fragen und sogar die kleinen Genüsse des Alltags im Vergleich zu dem dunklen Loch, in dem der Andere vor sich hin leidet, in einem – ja, wie soll man sagen – schäbigeren Licht sieht. So freut sich Lilli zwar an der Freude des kleinen Strolches, als der sein von ihr zusammengestoppeltes Halloweenkostüm anprobiert, ist sich aber gleichzeitig (mehr als sonst) darüber im Klaren, wie vergänglich dieser kleine Freudefunken doch ist. Sie genießt ihre Lieblingsfernsehsendung und sagt sich doch, dass sie nur fernsieht, weil es eine Ausflucht aus ihrem eigenen Leben ist, eine kleine Ruheinsel im Meer ihres traurigen momentanen Daseins. „Achtung, Achtung“, gehen zum Glück da die Warnlampen an, denn noch weiß Lilli ganz genau, dass diese Verschiebung der Perspektive auf Monsieurs Depression zurückzuführen und hochgradig ungesund ist. Noch weiß sie, dass sie recht hat, sich zu freuen, und es eben eine Frage der Zeit ist, bis Monsieur wieder genauso weit sein wird. Bis dahin ist sie irgendwie auf sich gestellt und findet Trost in ganz absurden Dingen wie der feuchten Wärme der Spülmaschine, die ihr beim Ausräumen entgegenschlägt, und der vollkommenen runden Form ihrer Teetasse, die sie beim Fernsehen in den Händen hin und her dreht.

Dienstag, 4. November 2008

Symptomatisch, aha

Laut Therapeutin hat Monsieur noch keine Depression, ist aber auf dem besten Wege dahin. „Wenn Sie eine Depression hätten, würden Sie den ganzen Tag schlafen, Sie könnten sich nicht auf Ihre Arbeit konzentrieren, nicht mehr essen“, ja, also soweit muss es erst einmal kommen, dass Monsieur nichts mehr essen kann! Außerdem ist Monsieur allen möglichen Lösungen gegenüber aufgeschlossen – was auch schon wieder zeigt, dass wenigstens noch seine obere Gehirnrinde aus dem tiefen Loch hervorlugt, in das er vor - wieviele sind's nun, vier? - Wochen runtergeklettert ist. Gestern hat Lilli deshalb mehrere Meter Drogerieregal nach dem besten Omega 3-Produkt abgesucht und schließlich eines erstanden, das Monsieur brav schlucken will, auch wenn ihm danach eine halbe Stunde lang Fisch aufstößt. Und heute morgen waren Lilli und Monsieur auf Monsieurs Vorschlag hin joggen! Tara! Man sollte meinen, dass sich ihre Beziehung wieder erwärmt, wenn auch draußen das Thermometer bereits auf Null Grad abfällt.

Donnerstag, 30. Oktober 2008

Schlechte Verbindung

Lillis Mutter ruft an und will wissen, wie es geht. Zuerst aber will sie erzählen, wie sehr sie sich über Lillis Tante aufregt, die doch nur ständig klagt und jammert und dabei wahrscheinlich bei besserer Gesundheit ist als Lillis Mutter und Vater zusammen. Dieses unbegründete Jammern geht Lillis Mutter, einer energischen (ein Personalmanager würde sagen "lösungsorientierten“) Frau, auf den Keks, und da Lilli eine gute Zuhörerin ist, kann man bei ihr Dampf ablassen, ohne zu befürchten, Lilli dadurch in eine peinliche Lage zu bringen. Schließlich riskiert Lilli nicht, demnächst der Tante über den Weg zu laufen und dann Mitleid heucheln zu müssen für ein Gebrechen, das faktisch nicht existiert… Dann aber besinnt sich Lillis Mutter darauf, dass sie eigentlich wissen wollte, wie es Lilli geht, und sagt: „Erzähl mir lieber was von dir, damit ich mit dem Gerede über deine Tante aufhöre und auf andere Gedanken komme.“ Ja, und was erzählt Lilli dann? Von den Kindern, vom Übersetzen, von Halloween und dem Schwimmbad. Von Monsieur erzählt sie… nichts.

Mittwoch, 29. Oktober 2008

Leben auf der Rennbahn

Wie bei jeder unangenehmen Überraschung fragt man sich auch bei einer Depression, ob es nicht schon früher irgendwelche Anzeichen gegeben hat, die uns hätten warnen können: die sogenannten „red flags“ (als ob das Leben ein Formel 1-Rennen wäre, bei dem seitlich irgendwelche Leutchen stehen und Fahnen schwenken). Lilli kann sich nur an eine einzige Begebenheit erinnern, bei der irgendwelche Fahnen geschwenkt wurden, und zwar vor etwa einem Jahr, als Monsieur und Lilli an einem Karting-Rennen teilgenommen haben. Lilli kam sich dabei so vor, als nähme sie auf einem Rasenmäher Platz und fuhr so langsam, dass sie ständig mit einer blauen Fahne bedacht wurde, die soviel bedeutete wie: „Mädel, entweder drehst du auf oder du fährst immer schön an der Seite, um die wilden Männer hinter dir vorbeizulassen.“ Keine angenehme Erinnerung, die aber zum Glück nichts mit den Warnsignalen zu tun hat, von denen weiter oben die Rede war. Dieses Suchen nach frühen Anzeichen ist deshalb so gefährlich, weil es absolut nichts Konstruktives zur Heilung der Depression beiträgt, sondern lediglich im Nachhinein noch die schönen Erinnerungen zertrümmert, die einem eigentlich dabei helfen sollten, positiv zu bleiben und sich liebevoll um den Depressiven zu kümmern… Trotzdem kommt Lilli in unachtsamen Momenten nicht umhin, den Finger in die Wunde zu stecken und sich zu fragen, ob Monsieur nicht schon seit längerer Zeit depressiv ist und das, was sie noch im Sommer zusammen erlebt haben, nur Schau war, aufgesetzte Maske, nur geschicktes Übertünchen des Abgrunds. Und je länger Lilli in der Wunde rumbohrt und mit dem Nagel kratzt, umso sicherer ist sie sich, dass Monsieur das schon seit einer Ewigkeit mit sich rumschleppt. Was sie wiederum so richtig unglücklich macht.

Dienstag, 28. Oktober 2008

Der moderne Mensch

Monsieur ist der Prototyp des modernen Menschen. Er besitzt ein kleines schwarzes Auto und einen Blackberry, er hat Stress im Büro, er hat von seinen Eltern keinerlei praktische Fähigkeiten (kochen, Knöpfe annähen, stricken, tapezieren) übermittelt bekommen und sich alleine nur die angeeignet, die ihm absolut notwendig erschienen. Er hat dunkle Anzüge und Jeans, aber nichts dazwischen, und neun Paar schwarze Schuhe, von denen er annimmt, dass sie sich von alleine putzen. Außerdem hat er neuerdings eine Therapeutin, die ihm viel Geld dafür abknöpft, dass sie ihm zuhört, seine Gefühle hinterfragt und anschließend viel von sich erzählt. Diese Woche war Lilli mit bei der Therapeutin, um sich erklären zu lassen, wie sie Monsieur bei der Bewältigung seiner depressiven Phase helfen kann. Und so sehr sich Monsieur auch über Lillis Konsum von pseudo-psychologischen Schrottzeitschriften lustig macht – die ausgebildete Therapeutin konnte Lilli auch nichts anderes sagen, als was sie bereits hundertmal im Hochglanzdruck für 6,50 $ gelesen hatte. Kurzum: der Partner muss Verständnis zeigen und gleichzeitig auf die positiven Seiten des Lebens aufmerksam machen, ohne zu urteilen…

Und während Lilli das alles ganz brav tut, meldet sich eine kleine Stimme in ihrem Kopf: Weiß eigentlich jemand, wie viel ein Sandsack kostet?

Montag, 27. Oktober 2008

Lillis Innen-Leben

Was macht Lilli, um nicht von Monsieurs Depression erdrückt zu werden? Was soviel heißt wie: was macht Lilli, um nicht denken zu müssen? Sie stürzt sich in die Dekoration des Gästebads, dessen hellgelbe Farbe ihr plötzlich unerträglich hellgelb erscheint und mit Verlaub zum Hals raushängt. Anstatt also in Selbstmitleid zu waten, hält sie Farbmuster an die Wand, hängt in Gedanken verschiedene Vorhänge auf und blättert den IKEA-Katalog nach passenden Bilderrahmen durch. Inneneinrichtung als Therapie – kommt wahrscheinlich billiger als ein Psychologe…

Dienstag, 21. Oktober 2008

Lilli wird handgreiflich

Ein großes Lob der städtischen Bibliothekarin, die Lillis Bücher („Stress, Angst, Depression: Gesund werden ohne Medikamente“, „Mit der Depression leben“, „Wege aus der Depression“ und „Depression erkennen und überwinden“) eingescannt hat, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken oder mitleidig zu lächeln. Hätte sie das gemacht, wäre Lilli gezwungen gewesen, über den Tresen zu langen und sie zu erwürgen. So aber hat Lilli die Bücher in die Tasche gesteckt und getan, als wäre sie eine Studentin, die sich auf ihr nächstes Referat vorbereitet. Komisch, dass ein Makel an dieser Krankheit hängt, als wäre sie etwas Unanständiges, was rechtschaffenen Leuten nicht passiert. Wobei sich die Schwäbin in Lilli nicht ganz sicher ist, ob das nicht doch einfach Faulheit ist, ein Sich-Gehen-Lassen, das behoben werden könnte, indem man sich einfach ein bisschen zusammenreißt… aber weiter kommt sie nicht in ihrer Überlegung, denn sobald sie den Mund aufzumachen versucht, um diesen Standpunkt näher zu erläutern, langt Lilli über ihren inneren Tresen und erwürgt sie.

Freitag, 17. Oktober 2008

Erstaunlich normal

Wenn einem etwas Außergewöhnliches zustößt – sagen wir mal, der Hund wird von einem Auto überfahren oder der Ehepartner wird plötzlich depressiv – ist man nicht so sehr darüber verwundert, dass dies tatsächlich passiert ist. Schließlich passieren ständig irgendwelche Sachen, darüber liest man in der Zeitung und hört es im Freundeskreis. Dass es nun einmal auch uns trifft, ist statistisch absolut akzeptabel. Nein, man wundert sich, dass um das Meteorloch, das von nun an unser Leben verunziert, also dass um die Katastrophe drumrum alles andere normal weitergeht. Was ist der Alltag doch machtvoll, und wie unerbittlich fordert er Aufmerksamkeit ein! So kommt es, dass Lilli, während sich der depressive Monsieur nach einer schlaflosen Nacht endlich die chemische Keule übergezogen hat und in den frühen Morgenstunden wegdämmert, so wie jeden Tag aufsteht, duscht, die Strolche weckt, Frühstück macht usw. Sie wundert sich, dass diese alltäglichen Gesten einfach so weitergehen; sie muss sich zwar anstrengen, um die Strolche anzulächeln, findet aber gleichzeitig Trost darin, dass dieser Teil ihres Lebens dem Meteor entkommen und (noch) unversehrt ist. Daran kann man sich vielleicht festhalten, wenn man verzweifeln möchte, dass das Paar, das man einmal gewesen ist, auf einmal nicht mehr existiert, weil der Andere eine Reise ins Innere des Abgrunds angetreten hat. Dass ihr Hund tot ist (wie man auf französisch sagt), möchte Lilli trotzdem nicht glauben. Wie sie ihn gesundpflegen kann, muss ihr aber erst mal jemand sagen.

Mittwoch, 15. Oktober 2008

Nur ein Wort

Oh, kein schönes Wort, nein, ein hässliches, böses Wort, das vieles umfasst und in den Medien so oft benutzt wurde, dass man nicht mehr genau weiß, was es bedeutet. Am Wochenende ist es endlich gefallen, dieses Wort, das als Begründung dafür herhalten muss, warum Monsieur im Moment so ist, wie er ist: Depression. Zumindest glaubt Monsieur, dass er eine hat oder macht, und Lilli kann gut nachvollziehen, dass er in einer ist, denn er ist eindeutig an einem Ort, zu dem Lilli keinen Zugang findet und der meilenweit von einem trauten Heim und einer harmonischen Familie entfernt liegt. Jetzt gruselt sich Lilli ein wenig vor den kommenden Wochen, und das liegt nicht an Halloween.

Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

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