Zonstiges
Weiss schwimmen seltsam geometrische Eisschollen im Sankt-Lorenz-Strom, als hätte ein himmlischer Faustschlag einen riesigen Spiegel in fenstergrosse Rauten und Dreiecke zerschlagen. Sie werden träge von Ebbe und Flut hin-und hergeschoben, unter ihnen schwappt dunkelgrün das Wasser, das noch so kalt ist, dass es wie Gelatine wackelt, anstatt fliessen zu wollen. Schön ist das Spektakel nicht gerade, einzig durch die Verheissung, die ihm innewohnt, erhält es seinen Reiz: Frühling, bald.
Lilli legt los - 11. Mär, 18:42
Eigentlich wollte Lilli ein Photo von dem Schneeberg machen, der vor ihrer Haustür liegt wie ein vollgefressenes Stachelmonster, das sich gerade übergeben hat. Also: im Februar taut es manchmal, dann friert es wieder, was das Zeug hält, und die Schneereste Montreals verfärben sich braunschwarz, werden innen hohl und haben auch sonst in ihrer Lieblichkeit allerhand Ähnlichkeit mit einem kariesbefallenen Milchzahn. Leider war Lilli aber heute morgen zu spät dran. Jetzt liegt schon wieder frischer Neuschnee drüber. Der Winter nimmt kein Ende, obwohl ihn jeder zur Hölle wünscht.
Lilli legt los - 25. Feb, 14:58
Im Moment ist alles happig. Die Kälte, die Grippewelle, die Ansprüche der Chefin, das Neuland von Monsieurs Selbständigkeit, die kratzenden Pullis und die Art und Weise, wie der kleine Strolch sich die Nase putzt. Jedesmal, wenn Lilli den Zündschlüssel dreht, ist sie erstaunt, dass das in Kälte und Salz eingebackene Auto anspringt. Jedesmal, wenn der Wecker klingelt, ist Lilli erstaunt, dass ihr Körper aufsteht. Ende Januar, wenn Montréal zu Eis erstarrt und der Sankt-Lorenz-Strom qualmt, wünscht sich Lilli auf die Bahamas.
Lilli legt los - 25. Jan, 19:53
Im Radio sagen sie minus 20 Grad, das Auto zeigt minus 16 Grad. Jedenfalls kann es im Januar ganz schön kalt sein in Kanada. Als Lilli am Montag den Kaltwasserhahn in der Küche aufdrehte, war sie direkt erstaunt, dass keine Eiswürfel in die Spüle purzelten.
Lilli legt los - 19. Jan, 09:58
Von den Leuten, die mit Lilli im Krankenhausflur sitzen und warten, dass eine himmlische Stimme sie aufruft, sieht Lilli nicht viel, denn jeder hat einen Turm aus Tasche, Jacke, Mütze, Schal und Handschuhen auf den Knien. Sehr krank sehen sie jedenfalls nicht aus, was wohl hauptsächlich daran liegt, dass es sich um eine HNO-Abteilung handelt - da geht die Krankheit mehr nach innen als nach aussen. Immer mal wieder kommen Krankenschwestern vorbei, oder Pfleger oder wie sie heissen, mit wehendem Mantel und diesem Gesichtsausdruck, der aus "Ich hab schon viel Leid gesehen" und "Jetzt haben Sie sich mal nicht so" besteht. Dann eine Frau mit einem Wägelchen, die rechts und links ihre Waren anpreist. "Kaffee", denkt Lilli, aber als die Frau auf Lillis Höhe angekommen ist, sagt sie nicht "Kaffee", sondern "Grippeimpfung" und lächelt auffordernd. Letztes Jahr um diese Zeit waren die Leute bereit gewesen, für eine Grippeimpfung zu morden oder vier Stunden lang in der Kälte anzustehen. Letztes Jahr gingen Lilli und die Stroche in ein extra eingerichtetes Grippeimpfzentrum, das in einem umfunktionierten Autohaus untergebracht worden war, und liessen sich in einem verglasten Büro impfen, in dem zuvor Verkäufer und Kunden über Kaufverträgen und Zusatzgarantien schwitzten. Jetzt schütteln die Leute höflich den Kopf, und auch als die Frau mit dem Wägelchen dazusetzt, dass die Grippeimpfung kostenlos ist, lächeln alle bedauernd und schütteln weiter den Kopf. Auch Lilli will keine Grippeimpfung. Sie will, dass Monsieur neben ihr sitzt und ihre Hand hält. Denn wenn es um Ohrenweh geht, ist sie nicht die grosse Lilli, sondern höchstens sieben Jahre alt.
Lilli legt los - 9. Dez, 16:42
Lilli hat jetzt schon seit Sonntag Rücken, und sogar das Niesen tut ihr weh. Andererseits hat sie die Zeit, die sie normalerweise mit Putzen und Waschen zubringt, dazu genutzt, auf Monsieurs Computer die E-mail neu zu konfigurieren, da dieser ab Neujahr vorhat, ganz viel von zu Hause aus zu arbeiten. Darüber hat sich Monsieur sehr gefreut.
Lillis Vater hatte am Montag einen Schlaganfall und liegt seither auf der Intensivstation. Andererseits war es nur ein leichter, es geht ihm gut und seine Hand kann er schon wieder ein klein wenig besser bewegen, meint jedenfalls die Physiotherapeutin.
Die Spange des kleinen Strolches musste innerhalb von 10 Tagen dreimal neu angepasst werden, da sie das erste Mal zu locker und danach zu fest war. Immerhin hatte er den dritten Termin so früh morgens, dass er nur eine Viertelstunde zu spät in die Schule kam.
Und heute morgen hat die Schule kurzerhand beschlossen, den Laden gar nicht erst aufzumachen, da die Gehwege und Strassen gleichmässig mit Eis und Wasser überzogen waren und für die armen Kinder Sturzgefahr bestand. Als Lilli das erfuhr, sass sie dummerweise bereits im Büro. Die Kinder hatten aber schon mit der Nachbarin ausgemacht, dass sie den Tag bei ihr verbringen würden, und liessen Lilli für den Rest des Tages unbehelligt.
War das nun eine gute oder schlechte Woche? Unter'm Strich betrachtet könnte sie direkt als "neutral" rauskommen...
Lilli legt los - 26. Nov, 17:37
Frage des Journalisten anlässlich der Montréaler Büchermesse: Warum sollte man sich in dieser Zeit der Hochgeschwindigkeit und der sofortigen Kommunikation noch die Zeit nehmen, zu lesen und zu schreiben?
Michel Folco: Das eine schliesst das andere nicht aus. Derjenige, der nicht mehr liest oder nicht mehr schreibt, hat es nicht anders verdient. Sein Pech!
Jawohl. Und "tant pis" für all diejenigen, die noch keins von Michel Folcos dicken, frechen und packend geschriebenen Büchern über die französische Henkersfamilie Pibrac und die Fünflinge Tricotin gelesen haben. Sie ahnen ja gar nicht, wie viele eindrucksvolle Bekanntschaften ihnen entgangen sind...
Lilli legt los - 19. Nov, 10:00
Wenn Lilli sich so liest, macht sie einen unglücklichen Eindruck. So, als ob ihr Leben nur aus Last und Trübsal bestünde, durchflochten von seltenen Lichtblicken zwar, aber doch hauptsächlich düster. Dabei weiss Lilli, dass sie glücklich ist. Sie vergisst es nur ab und zu.
Lilli legt los - 11. Nov, 09:27
Die Blätter sind aufgelesen, der Basketballkorb und der fast nicht genutzte Grill sind im Schuppen verstaut, der Tisch und die Stühle auch. Nur die kleine, etwas wackelige Parkbank mit den verschnörkelten Seitenteilen steht noch draussen. Letztes Jahr hatte sie den ganzen Winter in Lillis Garten verbracht und war zum Schluss so eingeschneit, dass sie unsichtbar wurde. Diesen Sommer über haben Lilli und die Strolche unzählige Nachmittage auf ihr verbracht, um dort im Schatten des Ahornbaums Kaffee zu trinken, denn auf der Terrasse wäre es dazu viel zu heiss gewesen. Die Bank ist so ziemlich das unbequemste Möbelstück in Lillis Garten und doch das meistgenutzte (location, location, location). Lilli sollte sie eigentlich gegen eine richtig gemütliche Bank austauschen, aber es bricht ihr das Herz, das alte Stück einfach auszurangieren. Jetzt darf die Bank erst mal in die Garage, damit die Strolche den Winter über ihre Stiefel auf ihr an- und ausziehen können. Als Zwischenstopp auf ihrer Reise in den Sperrmüll sozusagen.
Lilli legt los - 8. Nov, 12:05
Lilli hat ihre Berufung verfehlt. Anstatt Gutscheine für ein kostenloses Baguette aus der lokalen Wochenzeitung auszuschneiden und den Strolchen zu erklären, dass sie diese Woche keine Cornflakes gekauft hat, da die gerade nicht im Angebot waren, hätte sie lieber mal Luxusweibchen werden sollen. Letztes Jahr an Weihnachten musste sie sich mit einer nicht gewollten Perlenkette herumschlagen, jetzt geht sie in sich, um tief in ihrer schwarzen Seele die Antwort auf die Frage zu finden, ob man heutzutage nun echten Pelz tragen kann oder nicht. Die Sache ist ja die, dass Lilli in Kanada wohnt und es dort hübsch kalt werden kann. So ein Pelz wäre damit unter Umständen durch die sich auf Weihnachten hin anhäufenden Minusgrade zu rechtfertigen. Und sie will ja auch keinen ganzen Pelzmantel (um Himmels willen!), nur so ein Pelzkrägelchen um die Kapuze drumrum, damit der Wind schön wegbleibt und die Kapuze mit genau dem richtigen Gewicht ins Gesicht fällt... was schliesslich wichtig ist für Leute, die für Mittelohrentzündungen anfällig sind! Finden Sie mal eine Mütze, die bis über die Ohren runtergeht! Aber nein, Leute in Europa tragen keine Mützen, die wissen ja gar nicht, was für ein Thema das hier sein kann. Und sie will auch kein Seelöwenfell, auf dem Brigitte Bardot immer herumreitet, aber auch keine Imitation, denn dafür ist sie schliesslich zu alt. So.
Jedenfalls hat Lilli ihre Jacke zu einem Super-Öko-Recycling-Pelzgeschäft gebracht und ein sehr netter Mann hat ihr für nicht allzu viel Geld einen halben Waschbär an die Kapuze genäht. Wenn Lilli jetzt damit spazierengeht, kitzelt der wiederverwertete Waschbär, der früher mal ein hässliches Cape war, Lilli an der Stirn. Lilli beschliesst, das als gutes Zeichen zu nehmen. Vielleicht freut er sich ja, wieder an der frischen Luft zu sein...
Lilli legt los - 5. Nov, 18:34