Laufen mit allen Sinnen
Heute regnet es so, dass Lillis Brille während des Morgenlaufs zuerst vollgetropft wurde, dann beschlug und schließlich in die Tasche gestopft werden musste. Sofort verschwamm die Umgebung zu einem impressionistischen Gemälde, das Lilli den eigenartigen Eindruck verschaffte, mitten durch Monets Seerosen hindurchzulaufen. Nicht unangenehm, wenn Lilli es auch so vorkam, als verlöre nicht nur ihr Blick, sondern auch die Realität um sie herum an Schärfe, um sich zurückzuziehen und den anderen Sinnen – Gehör, Geruch – mehr Platz zu machen. Wie die Vögel morgens schreien, seit sie zurück sind! Wie nass und schwer das Gras riecht, das erst seit kurzem intakt unter dem Schnee hervorgekrochen ist! Wie schnell die Autos, die sie nur als rote, silberne und schwarze Pinselstriche wahrnimmt, neben ihr auftauchen und mit einem „wouschschsch“ durch die Pfützen fahren! Dann verschwammen auch diese Sinneseindrücke, um eine Erinnerung an den Urlaub damals in Guadeloupe an Lillis Gehirnrinde zu projizieren: wie bunt damals all die gemieteten Peugeots auf dem Hotelparkplatz leuchteten, ganz wie eine Versammlung von Kanarienvögeln, die unbeweglich in der gleißenden Sonne saßen und ihre Kanarienvogelfarben – blau, türkis, grün, gelb – zur Schau stellten… Als Lilli wieder zu Hause ankam, hatte sie nicht den Eindruck, die gleiche Strecke wie sonst gelaufen zu sein. Sie fühlte sich nur sehr erfrischt und mit neuer Energie geladen, wie nach einer Reise, die einen für kurze Zeit aus dem Alltag reißt und mit neuen Erlebnissen anfüllt. Vielleicht sollte sie öfter ohne Brille losziehen…
Lilli legt los - 7. Apr, 11:35