Freitag, 10. Dezember 2010

Füttert die Vögel, einen Zweier die Tüte

Die Strolche stehen im Park und füttern die Vögel, was selbstverständlich verboten ist. Kleine gelbe Vögel (Lilli ist ornithologisch nicht so bewandert, dass sie die Sorte benennen könnte) flattern auf ihre ausgestreckten Hände, picken sich einen Sonnenblumenkern weg, hauen schnell wieder ab. Vorsichtig, um die Vögel nicht zu vertreiben, dreht der kleine Strolch den Kopf zu Lilli und flüstert: "Ch'est une exchperienche magique!" Altklug war er schon immer (auf französisch sagt man da poetischer, dass er eine alte Seele hat), aber mit der Spange im Mund ist der Kontrast noch drolliger.

Donnerstag, 9. Dezember 2010

Heute im Angebot

Von den Leuten, die mit Lilli im Krankenhausflur sitzen und warten, dass eine himmlische Stimme sie aufruft, sieht Lilli nicht viel, denn jeder hat einen Turm aus Tasche, Jacke, Mütze, Schal und Handschuhen auf den Knien. Sehr krank sehen sie jedenfalls nicht aus, was wohl hauptsächlich daran liegt, dass es sich um eine HNO-Abteilung handelt - da geht die Krankheit mehr nach innen als nach aussen. Immer mal wieder kommen Krankenschwestern vorbei, oder Pfleger oder wie sie heissen, mit wehendem Mantel und diesem Gesichtsausdruck, der aus "Ich hab schon viel Leid gesehen" und "Jetzt haben Sie sich mal nicht so" besteht. Dann eine Frau mit einem Wägelchen, die rechts und links ihre Waren anpreist. "Kaffee", denkt Lilli, aber als die Frau auf Lillis Höhe angekommen ist, sagt sie nicht "Kaffee", sondern "Grippeimpfung" und lächelt auffordernd. Letztes Jahr um diese Zeit waren die Leute bereit gewesen, für eine Grippeimpfung zu morden oder vier Stunden lang in der Kälte anzustehen. Letztes Jahr gingen Lilli und die Stroche in ein extra eingerichtetes Grippeimpfzentrum, das in einem umfunktionierten Autohaus untergebracht worden war, und liessen sich in einem verglasten Büro impfen, in dem zuvor Verkäufer und Kunden über Kaufverträgen und Zusatzgarantien schwitzten. Jetzt schütteln die Leute höflich den Kopf, und auch als die Frau mit dem Wägelchen dazusetzt, dass die Grippeimpfung kostenlos ist, lächeln alle bedauernd und schütteln weiter den Kopf. Auch Lilli will keine Grippeimpfung. Sie will, dass Monsieur neben ihr sitzt und ihre Hand hält. Denn wenn es um Ohrenweh geht, ist sie nicht die grosse Lilli, sondern höchstens sieben Jahre alt.

Heisskalt

Die Montréaler haben das Saunieren entdeckt. Was bis vor ein paar Jahren noch als anzüglich galt und eher ein Ort der körperlichen Annäherung denn ein Hafen der Entspannung war (so gingen die Gerüchte, denn keiner würde offen zugeben, solche Institutionen zu frequentieren), hat sich zum schicken "Spa" gemausert. Jetzt wissen alle, dass das "Gesundheit durch Wasser" heisst und zum Wohlfühlen unbedingt dazugehört. Auch Lillis Freund, der ihr letztes Jahr zu Weihnachten eine Tageskarte für zwei Personen geschenkt hat, in einem Edeltempel (-tümpel?) mit Smoothies-Bar und viel Design. Vor kurzem hat Lilli nun mit Schrecken festgestellt, dass die kostbare Tageskarte nur noch bis zum 23. Dezember gültig ist - irgendwie sind Lilli und Monsieur das ganze Jahr über nicht dazugekommen, sich einmal so richtig in gemessenem Rahmen zu entspannen. Deshalb muss sie jetzt noch schnell vor Weihnachten ein Zeitfensterchen finden, in dem sie den Gutschein abgeniessen kann... So ein Stress aber auch.

Freitag, 3. Dezember 2010

Weihnachtskoller

Lillis Mutter denkt, dass es dieses Jahr kein Weihnachten geben wird. Der Vater ist zwar aus dem Krankenhaus entlassen, muss aber in die ambulante Reha und ist deshalb für keinerlei Weihnachtsvorbereitungen, für die er normalerweise eingespannt wird, zur Hand. Wer wird den Gutsleteig rühren, wer den Baum aufstellen, wer den Hof ausfegen, damit alles fein sein wird, wenn Lilli mit Familie am 21. einfliegen wird? Lilli versucht, sie zu beschwichtigen, hat aber den Eindruck, über die Hörermuschel direkt in den Wind zu reden. Bei Lilli stellt sich das mulmige Gefühl ein, dass ihre Mutter am 24. Dezember nervlich so zerrüttet sein wird, dass sie sich nach dem ersten Glas Sekt unter den Baum legt und erst am 28. wieder gewillt ist, aufzuwachen...

Freitag, 26. November 2010

Wochenstatistik

Lilli hat jetzt schon seit Sonntag Rücken, und sogar das Niesen tut ihr weh. Andererseits hat sie die Zeit, die sie normalerweise mit Putzen und Waschen zubringt, dazu genutzt, auf Monsieurs Computer die E-mail neu zu konfigurieren, da dieser ab Neujahr vorhat, ganz viel von zu Hause aus zu arbeiten. Darüber hat sich Monsieur sehr gefreut.

Lillis Vater hatte am Montag einen Schlaganfall und liegt seither auf der Intensivstation. Andererseits war es nur ein leichter, es geht ihm gut und seine Hand kann er schon wieder ein klein wenig besser bewegen, meint jedenfalls die Physiotherapeutin.

Die Spange des kleinen Strolches musste innerhalb von 10 Tagen dreimal neu angepasst werden, da sie das erste Mal zu locker und danach zu fest war. Immerhin hatte er den dritten Termin so früh morgens, dass er nur eine Viertelstunde zu spät in die Schule kam.

Und heute morgen hat die Schule kurzerhand beschlossen, den Laden gar nicht erst aufzumachen, da die Gehwege und Strassen gleichmässig mit Eis und Wasser überzogen waren und für die armen Kinder Sturzgefahr bestand. Als Lilli das erfuhr, sass sie dummerweise bereits im Büro. Die Kinder hatten aber schon mit der Nachbarin ausgemacht, dass sie den Tag bei ihr verbringen würden, und liessen Lilli für den Rest des Tages unbehelligt.

War das nun eine gute oder schlechte Woche? Unter'm Strich betrachtet könnte sie direkt als "neutral" rauskommen...

Freitag, 19. November 2010

Michel Folco hat ja so recht

Frage des Journalisten anlässlich der Montréaler Büchermesse: Warum sollte man sich in dieser Zeit der Hochgeschwindigkeit und der sofortigen Kommunikation noch die Zeit nehmen, zu lesen und zu schreiben?

Michel Folco: Das eine schliesst das andere nicht aus. Derjenige, der nicht mehr liest oder nicht mehr schreibt, hat es nicht anders verdient. Sein Pech!

Jawohl. Und "tant pis" für all diejenigen, die noch keins von Michel Folcos dicken, frechen und packend geschriebenen Büchern über die französische Henkersfamilie Pibrac und die Fünflinge Tricotin gelesen haben. Sie ahnen ja gar nicht, wie viele eindrucksvolle Bekanntschaften ihnen entgangen sind...

Bewaffneter Überfall

In Lillis ruhiger Wohngegend wurde vor kurzem ein 13-jähriges Mädchen angegriffen. Ein Unbekannter folgte ihr im Auto, stieg aus, hielt sie an den Haaren fest und bedrohte sie mit einem Messer. Sie schrie, ein Hund bellte, ein Mann trat aus der Haustür, um nach dem Hund zu sehen, der Täter ergriff die Flucht. In Lillis Inbox trafen kurz hintereinander zwei E-Mails mit der gleichen Nachricht ein, einmal über einen Fussballvater, einmal über die Schule. Die Strolche wussten auch schon Bescheid, als sie aus der Schule nach Hause kamen. "Und warum macht der das?", will der kleine Strolch wissen. Lilli erklärt, dass bei diesen Tätern der sexuelle Drang unkontrollierbar ist, dass sie nicht anders können, als sich mit Gewalt das zu beschaffen, was zur Obsession geworden ist. Der kleine Strolch nickt. "Deshalb sind die Opfer auch immer Mädchen, weil die Männer ja mit Jungen nichts tun können", beruhigt er sich selbst.

Das ist der Moment, in dem Lilli gern ihren Job als Mutter gekündigt hätte.

Dann erklärt sie den Strolchen, dass auch Jungen Opfer werden können. Und kann direkt das Messer spüren, mit dem der Täter auch ihr, und ihrer ganzen Familie, Gewalt angetan hat.

Dienstag, 16. November 2010

Auf der Mauer, auf der Lauer...

...sitzt ne kleine Wanze, sang Lillis Vater früher immer. Bettwanzen sind seit neuestem in Nordamerika wieder eine Plage, und zwar nicht nur in Lillis Wirkungskreis, in dessen Rahmen sie mit sozial schwach gestellten Menschen zusammenkommt, sondern auch z.B. im New Yorker Waldorf Astoria und (hihi) in den Umkleidekabinen von Victoria's Secret. Neueste Schreckensmeldung: die Dinger halten sich nicht nur in Betten und Stuhlpolstern (Achtung, Kinogänger!) auf, sie krabbeln auch gerne in Vespertaschen, die die Kinder mit in die Schule nehmen, und von dort in die Tasche des Nachbars... Lilli kauft also neue, waschbare Vespertaschen für die Strolche, vom Material her einem Taucheranzug nicht unähnlich und deshalb irre cool. Im Gespräch über Bettwanzen stellt der kleine Strolch nur eine Frage: "Schaffen sie es, jemanden in einer Nacht völlig auszusaugen?" Nein, das schaffen sie nicht. "Na, dann", meint er nur lakonisch und stöpselt sich wieder seinen i-Pod ins Ohr.

Manchmal ist Lilli sehr neidisch auf ihre Kinder.

Schön wie ein Ölwechsel

Schön war's, Lillis Wochenende mit Monsieur. Es gab viel Wald, viel Essen und eine wohltuende Fussmassage, bei der Lilli fast eingeschlafen wäre, obwohl es eine wildfremde Frau war, die da Lillis Zehen rieb und drückte. Es gab ein paar schöne Momente zusammen, von denen Lilli gerne gehabt hätte, dass sie innig wären, die man aber eher als harmonisch beschreiben könnte, was ja auch nicht wenig ist. "Und?", fragte Lillis Freundin heute morgen bei der Hausfrauengymnastik. Nichts und. Das Wochenende war kein einschneidendes Erlebnis, das Lilli und Monsieur zurück in den siebten Himmel katapultiert hätte. Eher eine Instandhaltungsmassnahme, die - regelmässig ausgeführt - der Karrosserie ein langes, reibungsloses Laufen garantieren soll. Ganz ohne Stottern.

Donnerstag, 11. November 2010

Gedächtnislücke

Wenn Lilli sich so liest, macht sie einen unglücklichen Eindruck. So, als ob ihr Leben nur aus Last und Trübsal bestünde, durchflochten von seltenen Lichtblicken zwar, aber doch hauptsächlich düster. Dabei weiss Lilli, dass sie glücklich ist. Sie vergisst es nur ab und zu.

Dienstag, 9. November 2010

Was Charles Dantzig über Lilli zu sagen hat

Charles Dantzig, französischer Autor, sagt doch tatsächich neulich in der Montréaler Tageszeitung, dass die Erwachsenen, die Bücher für Jugendliche lesen, einer "Verjugendlichung" (diese Übersetzung stammt natürlich von Lilli, auf französisch sprach er von einem "phénomène «d'adolescentisation» des adultes") unterliegen, die wohl daher kommt, dass man immer später in den Ernst des Lebens gestossen wird und der Intellekt deshalb auch immer später reift bzw gar nicht so weit kommt, anspruchsvolle Literatur lesen zu können.

Ha.

An dieser Stelle möchte Lilli ganz bescheiden eine Erklärung wagen, warum manche Erwachsene zur Nachtzeit zu leichtester Lektüre greifen. Nehmen wir mal letzten Dienstag. Da wird Lilli eine halbe Stunde zu früh von einem weinenden Strolch geweckt, der Rückenweh hat. Rückenweh, wundert sich Lilli und tappst an das Kinderbett, um dort zu tasten, hier zu drücken und an der Stirn zu fühlen, ohne auch nur irgendein Indiz für den seltsamen Schmerz zu finden. Obwohl Lilli gerne noch ein wenig geschlafen hätte, fragt sie den Strolch nach Stuhlgang, ungewöhnlichen Bewegungen am Vortag (Eishockey? die Treppe runtergefallen?), schlechten Träumen und sonstigen denkbaren Ursachen aus, schleppt sich anschliessend in das Zimmer des anderen Strolches, um dort nach dem aufheizbaren Kuscheltier zu suchen, wartet schlotternd vor der Mikrowelle, geht zurück in das Zimmer des nun nur noch wimmernden Kindes und stopft ihm das Heizkissen in den Rücken. Während sie beruhigende Beschwörungsformeln murmelt, ziehen dunkle Gedanken durch ihren Kopf, die von Kinderlähmung bis Rückenmarkskrebs reichen und allesamt von einem Bild begleitet werden, auf dem der Strolch in einem Rollstuhl sitzt. Dann geht sie duschen, macht Frühstück, wirft sich in ihre Arbeitskluft, rennt zum Zug. Ruft kurz darauf zu Hause an, um sich zu erkundigen, ob der Strolch inzwischen aufstehen kann. Kann er, Gott sei dank. Und in die Schule gehen auch, na prima. Anschliessend arbeitet sie unter Zeitdruck sieben Stunden lang, scherzt mit Kollegen, steht Rede und Antwort. Fährt nach Hause, treibt die Strolche nach einer kurzen Umarmung und einem Blick auf die Uhr dazu an, doch jetzt bitte Hausaufgaben zu machen. Teilt sich auf zwischen oben (schon wieder eine Powerpoint-Präsentation) und unten (Pronomen? rechte Winkel???), macht Essen. Fährt einen Strolch und den Nachbarsjungen zum Hockey, bringt den anderen Strolch ins Bett. Sieht Nachrichten voller Katastrophenmeldungen, wartet auf das Ende des Hockeytrainings, hört sich Berichte über ungerechte Behandlungen und gloriose Tore an. Macht die Küche sauber, füllt die Trinkflaschen für den nächsten Tag, räumt Essensreste in den Kühlschrank.

Und dann, lieber Herr Dantzig, dann geht Lilli ins Bett und greift nach Percy Jackson. Nicht, weil sie intellektuell auf dem Niveau einer Vierzehnjährigen verblieben wäre, sondern weil es manchmal so unheimlich guttut, den Ernst des Lebens zusammen mit dem Intellekt für eine Viertelstunde aus dem Zimmer zu sperren. Bevor er dann in wirren Träumen wiederkommt.

Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

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