Lillis Chefin verlangt, dass das gesamte Team einen Persönlichkeitstest macht, bei dem herauskommen soll, was für ein Kommunikationstyp man ist, wie entscheidungsfreudig man ist und überhaupt. Alle zittern innerlich, während sie sich über den vierseitigen Testbogen beugen, dessen Schwierigkeitsgrad dadurch erhöht wird, dass fast alle Aussagen negativ formuliert sind: "Ich bin nicht derjenige, der sich sofort freiwillig meldet, um vor der Gruppe eine Präsentation zu halten", "Ich kümmere mich nicht gern um Details" und, sehr verdächtig, "Ich treffe nicht gerne Entscheidungen". Dass man nicht immer nur "Trifft mehr oder weniger zu" ankreuzen kann, sondern sich für das eine oder andere Extrem entscheiden muss, ist auch klar, und so tastet Lilli ihren Weg einigermassen ehrlich durch den Fragebogen und rechnet mit dem Schlimmsten. Um hinterher gesagt zu bekommen, dass sie ganz unten links im Koordinatensystem angelegt ist, bei den Nerds, die alles analysieren und detailverliebt recherchieren, ohne je Entscheidungen zu treffen oder irgendetwas zügig geschafft zu kriegen. Ach ja, und im sozialen Bereich ist sie auf dem Niveau einer Blindschleiche, die sich besser mit den Blumentöpfen auf dem Balkon versteht als mit Fremden, die sie mit Smalltalk konfrontieren möchten. Man hat es nicht leicht als "Analytiker"...
Lilli legt los - 5. Mai, 08:00
Obwohl es im Moment regnet und kein bisschen nach Sommer aussieht, räumt Lilli die Kleiderschubladen der Strolche aus: die Sachen, die dem grossen Strolch zu klein sind (fast alles) kommt zum kleinen Strolch, dessen zu kleine Sachen auf zwei Stapel kommen. Ein Stapel mit den ausgefransten, zerrissenen Klamotten für die Stoffsammlung, ein anderer mit den noch guten Sachen zum Verschenken. "Warum nicht Saïd", sagt sich Lilli und zögert gleich darauf, da es bestimmt peinlich ist, dem Putzmann verwaschene T-Shirts für seinen Sohn anzutragen. Sie will nicht überheblich erscheinen, sie will auch nicht, dass er sich bei ihr unterwürfig bedankt und sich gleichzeitig darüber ärgert, in einer Position zu sein, wo er Krümel vom Tisch der reichen Frau annehmen muss. Dann doch lieber die anonyme Kleiderklappe an der Kirche? Da sieht wenigstens niemand, was man alles hergibt... Komisch, wo es Lilli doch hauptsächlich darum geht, dass noch funktionsfähige Dinge weiterverwendet werden, um die Umwelt zu schonen, so wie sie auch den Küchenabfall kompostiert. Sie will dafür keinerlei Dankbarkeit, lediglich ein gutes Gewissen für sich selbst. Wenn man aber Sachen verschenkt, schafft man automatisch Kategorien: der Schenker und der Beschenkte - ein Kastensystem wie in Indien.
Nachdem sie das alles eine Zeitlang wohl bedacht und in ihrem Herzen hin und her bewegt hat, nimmt Lilli den Stapel mit den guten Sachen, steckt ihn in eine Plastiktüte und hält sie Saïd hin. Der lächelt kurz, bedankt sich, als hätte Lilli ihm ein Stück Schokolade angeboten, und legt die Tüte zu seiner Jacke dazu, ohne gross hineinzuschauen. Seine Welt und seine Würde wurden durch die milde Gabe nicht erschüttert, und Lilli geht erleichtert zurück zu ihrem Computer, während Saïd weiter den Fernseher abstaubt.
Lilli legt los - 4. Mai, 10:49
Ein Kirchenbazar ist eine tolle Sache. Das Gemeinschaftsgefühl wird gestärkt, die Leute haben plötzlich einen guten (sogar noblen!) Grund, alle möglichen ungeliebten Sachen auszumisten, mit denen wiederum anderen Leuten eine Freude bereitet wird, und mit dem eingenommenen Geld kann ein Projekt ïn einer Schule in Haïti unterstützt werden. Lilli räumt also ihr Bücherregal aus und um, wischt dort seit zehn Jahren zum ersten Mal Staub (also bitte: wie kann sich in einem Regal mit Glastüren so eine Unmenge an Staub ansammeln???) und schafft es, genau 22 Bücher in die Kiste zu legen, die letzten Samstag den Weg auf den Kirchenparkplatz genommen hat. "Zweiundzwanzig Bücher, das gibt Platz", prahlt Lilli, weil sie genau weiss, dass Monsieur so ein Sammler ist, der sich noch nicht mal von dem kleinen Holzschiffchen trennen kann, das ihm noch nie gefallen hat, das er aber mal von seinem Vater bekommen hat, der doch sonst nie...
"Und was habt ihr gekauft?", will Monsieur hinterhältig wissen. "Nur vier Bücher und ein Fotoalbum, aber ein richtig schönes", verteidigt sich Lilli. Solange die Bilanz negativ bleibt, ist ihrer Meinung nach alles in Ordnung...
Lilli legt los - 2. Mai, 11:54
Der kleine Strolch glaubt nicht, was er sieht: seine Mutter frühstückt im Stehen vor dem Fernseher, während dort eine hübsche Brünette mit einem roten Zinnsoldaten durch die Westminster Abbey gleitet. "Die Bäume! Und das Kleid! Und Harry!", gibt Lilli zwischen zwei Bissen Marmeladebrot von sich, ohne sich speziell an jemanden zu wenden, als hätte sie vor lauter Rührseligkeit vergessen, wie man ganze Sätze bildet. "Wer heiratet denn da?", will der kleine Strolch wissen, und ob die Hochzeit in echt stattfindet oder nur im Film. "Bei der Prinzessin Diana damals war das alles viel prachtvoller", erinnert sich Lilli kopfschüttelnd. "Wer ist Prinzessin Diana?", fragt der kleine Strolch, und da erst scheint Lilli ihn wahrzunehmen. Jemand, der Prinzessin Diana nicht kennt, muss wirklich sehr jung sein, denkt Lilli sich. Oder alle anderen echt alt.
Lilli legt los - 29. Apr, 23:18
Am Montag sind hier Wahlen, aber Lilli hat keine Wahl: sie darf nicht wählen, hat sie doch gewählt, hier nur Gast zu sein und ihren deutschen Pass fein zu behalten. Was ihr auch gar nichts ausmacht, denn es ist ja so gar keine Auswahl bei diesen Wahlen...
Lilli legt los - 29. Apr, 08:00
Eine Mitarbeiterin in Lillis Büro ist schwanger, und dies schon seit Monaten. In der Mittagspause kommt es deshalb vor, dass sich die Frau länger und genüsslich über diverse Schwangerschafts- und Babythemen auslässt. Lillis Kollegin gesteht Lilli daraufhin, dass es für sie nichts Nervenderes gibt als das ewige Schwangerschaftsgequassele - für sie der Inbegriff des "Auf-den-eigenen-Bauchnabel-fixiert-Seins". Lilli plädiert diplomatisch für Nachsicht, wenn sie auch verstehen kann, was die Kollegin meint. Und denkt sich: "Das sagst du nur, weil du selber keine Kinder hast". Komisch, wie man die Leute einteilt: erst in solche, die aufs Gymnasium gehen und die, die es nicht geschafft haben. Dann in solche, die einen Freund haben, und die, die keinen abkriegen. Jetzt die Kinder. Später dann vielleicht solche, die ein Gebiss haben, und die, die noch alles selber essen können?
Lilli legt los - 28. Apr, 18:54
Erstens: Lilli hat dieses Jahr nur Lindteier gekauft (gut, es gab sie im Drogeriemarkt im Angebot, aber trotzdem) und von ihrer Schwiegerfamilie nur Billigeier zurückbekommen. Sogar solche ganz ohne Schokolade, mit buntem Zuckerguss aussen und pudriger Zuckerfüllung innen, die so grässlich sind, dass Lilli sie aus der Packung direkt in den Mülleimer gekippt hat.
Zweitens: Aufgrund mangelnder Zeitplanung und spontan einsetzender Faulheit hat Lilli es dieses Jahr nicht in die Kirche geschafft. Das, was sich noch am ehesten als spirituelles In-sich-gehen qualifiziert, fand auf einer Radtour am Ostermontag statt. Oder vielleicht beim Frisörbesuch am Karfreitag.
Fazit: Lilli fühlt sich irgendwie betrogen und Betrüger. Zwei Seelen ach in meiner Brust.
Lilli legt los - 27. Apr, 12:15
Heute hatten die Strolche schulfrei pädagogischen Tag und theoretisch hätte Lilli gestern ins Büro gehen und dafür heute zuhause bleiben können. Gestern aber sollte sie mit Monsieur Buchhaltung machen, was sie wiederum nicht konnte, weil Monsieur den ganzen Tag am Telefon hing. Deshalb geht sie heute ins Büro und die Strolche bleiben, von Monsieur einmal abgesehen, der den Tag über nicht vom Schreibtisch weicht, allein zu Hause. Um die Mittagszeit rufen sie bei Lilli an:
Strolche: Ja, also, wir machen gerade Rührei (leichtes Zögern in der Stimme)...
Lilli: Jaaaa?
Strolche: Und weil die grosse Pfanne schmutzig war, haben wir die kleine genommen.
Lilli: Jaaa?
Strolche: Da haben wir sechs Eier reingetan.
Lilli: Jaaaaaaa?
Strolche: Und jetzt werden das keine Rühreier wie sonst.
Lilli: Was wird es denn dann?
Strolche: Nur so eine gelbe Sosse.
Lilli beruhigt die Strolche und erklärt, dass es einen direkten Zusammenhang gibt zwischen der Grösse der Pfanne und der Entstehungszeit von Rühreiern. Sie rät ihnen, immer fleissig weiter zu rühren und bleibt am Telefon, bis die Strolche erleichtert berichten, dass es jetzt doch noch was geworden sei. Als sie auflegt, hat sie Hunger.
Lilli legt los - 21. Apr, 18:16
Neulich eine Reportage in einer Frauenzeitschrift über das Spontansein im Gegensatz zum Alles-geplant-haben-müssen. Die Frau geht in einen Buchladen und fragt das Mädel, das gerade die Reiseführer einräumt, welche Stadt der Welt sie am aufregendsten findet. Antwort: Tokio. Sie kauft sich also ein Flugticket nach Tokio, fragt im Flugzeug nach einer Hotelempfehlung, fragt dann im Hotel, was sie wohl früh am nächsten Morgen in Tokio machen könnte, fragt den Mann auf dem Fischmarkt nach einem guten Restaurant, fragt die Bedienung im Restaurant nach ihrer Lieblingsbeschäftigung usw. An ihrem letzten Abend endet sie in einem Schönheitssalon, in dem ihr Hunderte von kleinen Fischen die abgestorbenen Hautfetzen von den Füssen fressen, und lacht sich mit anderen Kundinnen, die alle im gleichen Bottich stecken, krumm und schief.
Monsieur findet die Idee genial und sieht sich schon mit der ganzen Familie auf Abenteuertour gehen. Lilli hat Angst davor, was sie auf so einer Reise wohl essen müsste.
Lilli legt los - 20. Apr, 10:16
Saïd ist Immigrant. Lilli auch.
Saïd lebt schon eine ganze Weile in Kanada. Lilli auch.
Saïd spricht fliessend französisch. Lilli auch.
Saïd ist 39 Jahre alt. Lilli.... nun ja, kaum wesentlich älter.
Saïd hat Kinder. Lilli auch.
Saïd hat den Winter satt, vor allem im April. Lilli auch.
Saïd hat ein abgeschlossenes Studium. Lilli auch.
Saïd hat viel Papierkram auf sich genommen, um sein Diplom anerkennen zu lassen. Lilli auch.
Saïd kommt aus Marokko. Lilli - nicht.
Saïd ist Putzmann. Lilli ist beschämt.
Lilli legt los - 19. Apr, 20:30
Lilli hat eine zündende Idee: von jetzt an sollen die Strolche sonntag abends fürs Essen zuständig sein. "Sagt mir, was ihr kochen wollt, dann kauf ich alles ein", erklärt Lilli ihnen. Vor ihrem inneren Auge sieht sie schon, wie die Strolche werkeln werden, um Fleisch zu braten und Gartechniken für Kartoffeln zu entwickeln, und wie ungemein stolz sie sein werden, alles selbst geschafft zu haben. Anfangs wird Lilli zwar noch als Assistentin agieren müssen, aber mit der Zeit werden die Köche an Sachverstand gewinnen und Lilli nicht mehr brauchen - und dabei fürs Leben lernen! Sie sieht sich schon grosszügig über halbgare Nudeln und verbrannte Schnitzel hinwegsehen, gewinnt sie dadurch doch immerhin einen Abend, an dem sie mal nicht selbst am Herd stehen muss...
Die Strolche verstehen den Vorschlag vor allem so, dass sie von nun an sonntag abends freie Menüwahl haben. "OK, wir machen Hot Dogs", entscheidet der grosse Strolch und reibt sich die Hände. "Ach ja, und noch was", setzt Lilli noch schnell nach: "Es muss jeden Sonntag abend was anderes sein." Sicherheitshalber.
Lilli legt los - 18. Apr, 12:17