Lillis Lieblingssatz in "Rebecca": "Sagen Sie Robert, er soll den Tee unter dem Kastanienbaum servieren."
Dieser Satz ist aus so vielen Gründen unwiderstehlich, dass Lilli gar nicht weiss, wo sie anfangen soll. Beim Tee, beim "servieren" oder bei der Tatsache, dass die Romanfigur, die diesen Satz ausspricht, so viele Dienstboten hat, dass sie gar nicht mit allen direkt kommuniziert... Hach.
Lilli legt los - 23. Apr, 08:52
"Wenn ihr heute abend Stöhnen und Geschrei hört, dürft ihr auf keinen Fall hochkommen und die Tür aufmachen", erklärt Lilli den Strolchen. "Warum, was macht ihr denn?", fragt der kleine Strolch (der grosse Strolch traut sich nicht). "Steuererklärung."
Lilli legt los - 21. Apr, 05:00
Warum haben die jungen Mütter mit ihren Jogger-Kinderwagen so starke linke Handgelenke? Weil sie rechts ihr Handy halten.
Lilli legt los - 20. Apr, 17:59
Da der grosse Strolch Agatha Christie mag, drückt ihm Lilli nach dem Büchereibesuch "Rebecca" von Daphné du Maurier in die Hand. Sie kennt ihn schon, diesen alten Psychothriller um die schüchterne junge Frau ohne Vornamen, die unter dem Phantom ihrer Vorgängerin leidet, und freut sich darauf, mit dem grossen Strolch darüber zu reden. Ein Strohhalm wie ein anderer, um mit einem schlaksigen Dreizehnjährigen in Kontakt zu bleiben, der dieser Tage ganz gehörig zwischen seinem Kleinenjungendasein und Teenagermentalität pendelt. Um aber seine Fragen beantworten zu können - was ist eine dame de compagnie, eine gouvernante, eine fille de chambre? - muss Lilli den Schinken selbst noch mal lesen, denn ausser der Grobstruktur kann sie sich doch kaum mehr an etwas erinnern. Jetzt hat das Buch also zwei Lesezeichen, und wenn Lilli auch abends den Strolch überrundet, holt er tagsüber wieder auf wie Jacques Villeneuve damals, als er noch richtige Autorennen fuhr...
Lilli legt los - 18. Apr, 12:54
Wieder einmal ist Lilli mit geschlossenen Augen durch den April getaumelt. April ist hier kein Monat zum Leben: der Winter wintert noch vor sich hin, obwohl er jedem zum Hals raushängt und sich schon längst hätte nach Norden in den Permafrost (auf französisch so ein hübsches Wort, pergelisol) verziehen sollen; die Bäume schlagen kein bisschen aus, dafür schlägt die Einkommensteuer zu und die Ameisen, die man letzten Sommer aus der Küche vertrieben hat, schlagen mit erneuten Kräften zurück. Wieder einmal ist Lilli mit geschlossenen Augen Tag für Tag zum Zug gestiefelt, hat sich nach der Arbeit durch unzählige Elternsitzungen gekämpft und schmerzhafte Stunden auf unbequemen Bänken in miefenden Turn- und Eishallen abgesessen. Und dann auf einmal sprechen Lillis Mitmenschen von Sommerferien und Urlaubsplänen, da müssen Feriencamps gesucht und gebucht werden und die Wochen bis zum Schulende zählen sich an zwei Händen ab. Da braucht man plötzlich kurze Hosen, Sandalen und eine Pediküre, und die Vögel schreien Lilli zu: Mach die Augen auf, der Sommer ist da. Dieser Tage blinzelt Lilli wie ein Bär nach dem Winterschlaf.
Lilli legt los - 17. Apr, 18:17
Der Herr im Anzug, der neben Lilli im Zug sitzt, hält einen Notizblock mit liniertem Papier in der Hand. Er zückt einen Kugelschreiber, zögert ein bisschen, schreibt schliesslich "Comment?" in die linke obere Ecke. In den elf Minuten, die Lilli neben ihm sitzt, malt er ein streichholzschachtelgrosses Rechteck in die Mitte des Blattes, fährt gedankenvoll an den Linien entlang, um sie noch schwärzer zu färben. Sonst schreibt er nichts.
Lilli kann ihn gut verstehen. Sie fragt sich auch manchmal "Wie denn nur?", und findet keine Antwort. Aber das Fragen an sich reicht völlig.
Lilli legt los - 13. Apr, 18:11
Grosser Tag in Lillis Firma, bei dem Lilli und eine Kollegin, die sich immer gern freiwillig für Begrüssungskomitees und solche Sachen, wo man viel lächeln muss, meldet, am Aufzug des Kongresszentrums stehen und die Leute in die richtige Richtung winken. Die Kollegin ist schwarz wie die Nacht, hat blendend weisse Zähne und plappert wie ein Wasserfall. Lilli kann nicht umhin, ihr ins Gesicht zu starren und diesen extremen Kontrast zu bewundern, der so ganz anders ist als der zwischen Lillis bleichem Gesicht und ihren mausblonden Haaren. Die Kollegin ist jung und fröhlich, kommt jeden Tag zu Lilli ins Büro, macht die Runde und wünscht allen einen guten Morgen, was Lilli insgeheim bewundert, da sie selbst über keinerlei derartigen Sozialkompetenzen verfügt und sich, wenn man sie liesse, hinter ihrem Computer verstecken würde. Irgendwas stimmt aber heute nicht mit der sonst so motivierten Frau. "...jedenfalls hat sich jetzt eine Mitarbeiterin beschwert, dass ich sie stören würde, wenn ich jeden Tag in ihr Büro komme, und meine anderen Kollegen meinen auch, ich solle lieber nicht die Abteilung verlassen. Das würde sich nicht gehören, dass man einfach so rumläuft und alle begrüsst." Die Kollegin ist empört, und alle Unverständnis dieser Welt spiegelt sich in ihren dunklen Augen wieder.
Das Thema des Tages? Mitarbeitermobilisierung durch Teamarbeit und Dialog. Ehrlich jetzt.
Lilli legt los - 12. Apr, 05:00
Die Osterwache war bombastisch, was den kleinen Strolch nicht davon abgehalten hat, wieder nach der Hälfte auf Lilli einzuschlafen. Inzwischen ist er so lang, dass er dazu die halbe Kirchenbank braucht, was weiterhin keinen Aufruhr verursachte, da die Kirche eher leer war und an Bänken kein Mangel herrschte. Hinterher wurde die Gemeinde noch zu Keksen, Saft und Geplänkel mit den Dominikanermönchen eingeladen, was Lilli zum Anlass nahm, nach dem Abt zu fragen, der sie damals auf die Trauung vorbereitet hat. "Abbé C. hat uns letztes Jahr verlassen", erwidert der weisshaarige, in weisser Kutte gekleidete Mönch, der in dieser Antwort so viele Zwischentöne mitschwingen lässt, dass sich Lilli geradezu zum Nachhaken aufgefordert fühlt. "War er denn krank?" "Nein, nein, es geht ihm gut. Er lebt mit einer Frau zusammen, die er kennengelernt hat, als er an der Uni unterrichtete", erklärt der Mönch und klingt fast amüsiert. Lilli, die Geschichten mag, in denen Leute ihr Leben total umkrempeln, ist beeindruckt. Abbé C. ist 72 Jahre alt.
Lilli legt los - 9. Apr, 09:41
Seelen sind im Schwäbischen käuflich erhältlich und dem französischen Baguette, wenn auch mit grobem Salz und Kümmel bestreut, nicht unähnlich. Neulich ist Lilli über ein Rezept für Seelen (sprich: Säälen) gestolpert, das sie aus einem Anfall von Nostalgie heraus auch sofort ausprobieren musste. Nun, richtige Seelen sind es nicht geworden, was vielleicht daran lag, dass Lilli die Hälfte Weissmehl durch Vollkornmehl ersetzte, irgendwie sehr viel mehr Wasser brauchte als angegeben und Salz und Kümmel gleich weggelassen hat. Auch las sie hinterher auf Wikipedia, dass Seelen einen Anteil an Dinkelmehl brauchen, um die richtige Dichte zu bekommen... Aber es wurde ein mehr als essbares, schön knuspriges und innen feuchtes Stangenbrot, das tatsächlich aus nichts anderem als Mehl, Salz, Hefe und Wasser besteht.
Von jetzt an, verspricht sich Lilli, wird ihr Alltag seeliger werden. Ganz ohne chemische Zusätze...
Lilli legt los - 8. Apr, 05:00
Nach dem Wunsch nach Einkehr und Stille keimt der nach Oberflächlichkeit auf, als gälte es, hier bloss schnell wieder ein Gleichgewicht zu schaffen. Am besten geht dies mit Tyra Banks und ihren Topmodels, die Donnerstagabends über den Bildschirm flimmern. Sogar die Strolche sind noch auf und stimmen kräftig mit ab, wer denn nun die Hässlichste ist. Der Zufall will es, dass die Saison gerade erst los geht und die Mädels von 30 auf 20, dann auf 13 ausgesiebt werden müssen. Und obwohl sie alle auf den ersten Blick hübsch sind, manche auch geradezu umwerfend, spielt man schnell das Spiel mit, schüttelt die Wahre-Schönheit-kommt-von-innen-Skrupel ab und schlüpft in die Haut der Richter, die hier einen schlabbrigen Oberarm, dort ausdruckslose Augen oder zu kräftige Wangenknochen beanstanden. Eine junge Frau hat einen Zwischenraum zwischen den Schneidezähnen, der sofort auf heftigste Kritik stösst. "Ein Abstand wie ein Scheunentor", meint der grosse Strolch, während Monsieur gar von einem "Tagesmarsch" spricht.
Hinterher, beim Zähneputzen, nimmt Lilli die Brille ab, um nicht etwa in den Spiegel blicken zu müssen.
Lilli legt los - 7. Apr, 05:00
Rituale sind wichtig, sie geben Halt und Orientierung, und wenn die Kinder sie auch nach aussen hin langweilig finden, säen sie doch in angeschlagenen Seelen eine gewisse Wohltat, die womöglich allein daher rührt, dass Wiederholungen durch ihre Vorhersehbarkeit beruhigen. Anders ausgedrückt: es ist Zeit für die Osterwache. Lilli schleppt schon seit Jahren die zwei Strolche am Ostersamstagabend mit in die Benediktinerkirche, in der die Mönche alles aufbieten, was das Zeremoniell an Zeremoniellem zu bieten hat. Als nähmen sie an einer Fernsehsendung teil, für die alles "visuell" zu gestalten ist, ziehen die Mönche mit ihrer Kutte ein, bespritzen die versammelten Schafe ordentlich mit Weihwasser, beweihräuchern und zünden Kerzen an. Für die Ohren gibt es gregorianische Gesänge und hypnotisch anmutende Anrufungen aller Heiligen, eine langwierige Litanei, bei der dem kleinen Strolch letztes Jahr die Augen zugefallen sind. Für die evangelische Lilli ist diese Messe fremd und unter normalen Umständen weit von ihrem eigenen Glauben, eher nüchtern und schmucklos, wie sich das im Schwäbischen gehört, entfernt. Trotzdem findet sie in all diesem Zauber den Weg zu Einkehr und innerer Stille, der sich ihr im Alltag und das ganze Jahr über eher nicht offenbahrt.
Hinterher ist man froh, das Ganze ohne Asthmaattacke überstanden zu haben, und am nächsten Tag ist Ostern. Frühling, Neuanfang, Wärme, Draussensein, Barfusslaufen und Fahrradfahren, all das Schöne im Leben kommt wieder, wie es das jedes Jahr zu tun pflegt. Nur, dass man es in den dunklen Momenten des Winters fast vergessen hätte.
Lilli legt los - 6. Apr, 10:00
Als Eltern kann man alle möglichen guten Vorsätze haben, man kämpft gegen zwei Naturgewalten an: die eigenen Kinder mit ihrem unablässlichen, wohl angeborenen Streben nach Wohlbefinden - und die Eltern der anderen Kinder, die fröhlich unterstützen, was man selbst vermeidet.
Lilli ist sich nicht sicher, welche Naturgewalt ihr im Moment mehr Energie abverlangt.
Lilli legt los - 5. Apr, 05:00
Von Kanada aus gesehen ist Frankreich langsam. Was für Lilli besonders irritierend ist, weil Lilli einen Abgabetermin hat, der mit einer Veranstaltung zusammenhängt und deshalb in Beton gegossen ist. Nicht verschiebbar, nicht flexibel. Nun, Lillis Ansprechpartnerin in Frankreich ist auch nicht sehr flexibel. Erstens kann sie keine grossen Datenmengen schicken, da ihr Computer (erstaunlich für eine Video-Produktionsfirma!) nur auf Schneckentempo funktioniert. Und zweitens schlägt sie vor, die als Ersatzlösung kopierten CDs mit der Post zu schicken. MIT DER POST! Schlimmer noch: MIT DER FRANZÖSISCHEN POST! Lilli fleht sie an, doch bitte einen privaten Lieferdienst in Erwägung zu ziehen, aber die Dame verpasst die Öffnungszeiten und schickt ihr Paket also doch mit der Post. "Am Dienstag kommt es an", verspricht sie. Am Dienstag aber sitzt das Paket noch in Roissy, ohne dass die Post weitere Erklärungen abgibt, warum es denn nicht weitergeht. Wahrscheinlich ein Fehler in der Zollerklärung... Anstatt also an ihrem Projekt zu arbeiten, atmet Lilli durch die Nase und lernt Geduld. Nicht gerade ihre Hauptbegabung.
Lilli legt los - 4. Apr, 05:00