Lilli fällt auf, dass es immer mehr Strassencafés gibt in Deutschland. Entweder, weil es wärmer geworden ist und sich so eine Terrasse inzwischen monatelang betreiben lässt, oder weil die Leute Gefallen daran gefunden haben, auswärts Kuchen zu essen. Aber bitte nicht im eigenen Dorf oder Stadtteil - nein, ins Café geht man in den Nachbarort oder lieber gleich richtig in die Stadt. Denn von Leuten, die man kennt, beim zur Schau gestellten Nichtstun ertappt zu werden - das will man dann doch nicht. Dazu ist man einfach immer noch "helingen (heimlich) reich", zumindest im arbeitsamen Süden.
Lilli legt los - 3. Jul, 05:00
In Deutschland stehen für Lilli mehrere Pflichtbesuche an, am liebsten bitte gleich zu Anfang, um zu sagen, dass sie jetzt angekommen ist, und dann nochmal vor dem Abflug, um sich zu verabschieden. Dieses Jahr fällt ihr auf, dass sich der Gegenstand der dabei geführten Unterhaltung ganz stark gewandelt hat: nicht mehr Lillis Wohlergehen in der Fremde ("Was arbeitest du noch mal? Und wie geht es den Kindern?") steht im Mittelpunkt, sondern das Leben der Besuchten. Fotos von früher werden herausgekramt, von Häusern und Leuten, die Lilli nicht kennt, und Krankheiten beschrieben und vorgeführt. "Fass mal hier an, an der Wirbelsäule, da ist ein richtiger Klumpen." Wenn Lilli sich weigert, Klumpen an Wirbelsäulen und anderen Körperstellen anzufassen, reagieren die Tanten mit Unverständnis. Dann erzählen sie weiter von Krankengymnastik, Computertomographie und ähnlichen Zeitvertreiben. Am Ende drücken sie Lilli einen Umschlag mit Geld in die Hand und ein Glas Honig, eine Flasche Apfelsaft oder eine Prinzenrolle.
In den fast zwanzig Jahren, die Lilli nun schon in Kanada wohnt, sind die Tanten von 65 auf 85 Jahre gealtert. Irgendwann in letzter Zeit haben sie aufgehört, sich für andere zu interessieren, und sich wie eine Schnecke zurückgezogen in die eigene, nur für eine Person Platz lassende Welt. Genau dann, wenn sich dieses Sich-von-der-Welt-Abwenden vollzieht, kann man die Grenze ziehen zwischen Jung und Alt. Bei manchen geschieht dies früher, bei anderen später, bei ganz wenigen Auserlesenen gar nicht. Es soll Lilli eine Lehre sein...
Lilli legt los - 2. Jul, 17:28
Lilli sass am Gang, um sie herum stopften Leute ihre Rucksäcke in die Overheadbins, nur die vier Plätze der Mittelreihe waren noch leer. "Wenn sie beim Starten immer noch leer sind, leg ich mich da quer", dachte sich Lilli schon, da sah sie sie den Gang entlang kommen. Eine schwergewichtige Muslimin in meterweise Stoff, mit Handtasche, Windeltasche und einem einjährigen Mädel beladen, hinter ihr drei weitere Mädels mit Zöpfchen, Röckchen und Kniestrümpfchen, ein Traum in Rosa und alle nicht älter als sieben Jahre. "Wie bin ich froh, ich zu sein", dachte sich Lilli und nahm sich fest vor, helfend einzugreifen, wo sie gerade gebraucht werden könnte. Zu ihrem grossen Erstaunen aber waren die kleinen Mädchen Profis im Fliegen und kamen sowohl mit dem Gurt, als auch mit dem anschliessenden Apfelbrei ("Apfelbrei im Flugzeug!!!"), dem Rest des bei Air France immer noch üppigen Essens und dem mittels Tastbildschirm zu bedienenden Bordprogramm ohne das Einschreiten irgendwelcher Erwachsenen zu Rande. Auch die Mutter stülpte sich, kaum war das Baby auf ihr eingeschlafen, die Kopfhörer über, sodass von der gesamten Familie die nächsten sechs Stunden kein Pieps zu hören war. "Alle Achtung", mimte Lilli beim Aussteigen und lächelte der Frau anerkennend zu. Die lächelte zurück, stolz auf ihre Mädels und stolz auf sich selbst.
Lilli legt los - 28. Jun, 05:00
Dem kleinen Strolch hat es gefehlt, von Lilli in den Arm genommen zu werden. Dem grossen Strolch hat Lilli eher allgemein als stetige Präsenz gefehlt ("So wie ein Möbelstück, hm?", meint Lilli. "Nein, so wie meine Fische", sagt doch der, meint es aber nur im Spass). Monsieur hat der "Kapitän" gefehlt, jemand, der sagt, wo es lang geht und dass man sich zum Essen an den Tisch und nicht vor den Fernseher setzt. Lilli wiederum hat ihre Familie kein bisschen gefehlt: sie hat es auf geradezu erschreckende Weise genossen, mal eine Woche lang nicht zuständig zu sein, nicht für andere planen zu müssen und, wenn sie aus der Ferne "Mama" hört, genau zu wissen, dass es sie nichts angeht. Wie schwer so was wiegt, merkt man wohl erst, wenn ein anderer den Packen trägt...
Eine Woche lang hat Lilli ihre Auszeit sehr genossen. Danach waren alle froh, wieder zur bewährten Viererfamilie zusammenzuschmelzen, die sich so anfühlt, wie es sein muss.
"Sonst würde man ja auch viel zu wenig Obst und Gemüse essen", meint Monsieur noch. Ach ja.
Lilli legt los - 27. Jun, 18:04
Morgen fliegt Lilli nach Deutschland. Allein. Monsieur und die Strolche bleiben zuhause und werden aufeinander aufpassen und sich alleine bekochen müssen. Eine Woche lang wird Lilli ihre Vergangenheit besuchen, hoffentlich nicht wie in einem Museum darin herumwandern, sondern neu anknüpfen mit Menschen, die zwar zu ihr gehören, aber nicht zu ihrem Leben hier. Sie wird Rhabarberkuchen essen, in Wäldern ohne Schnaken spazierengehen, auf Schritt und Tritt Schwäbisch hören und ansonsten die Augen offenhalten für alles, was dort, wo sie aufgewachsen ist, jetzt fremd für sie ist. Eine Reise zwischen zwei Welten, auf die sich Lilli bis tief in ihre Bauchgrube freut. Die Kollegen vom Büro wollen Fotos und Schokolade. Und eine Flasche Trollinger, unter dem sie sich nichts vorstellen können.
Lilli legt los - 3. Jun, 17:31
Heute wollte Lilli länger arbeiten, um aus dem Weg zu schaffen, was noch erledigt werden muss, bevor sie nächste Woche nach Deutschland fliegt. Um 17 Uhr aber wird der Himmel über Montréal plötzlich dunkel, eine Stille senkt sich herab, dann donnert es los. Himmlische Schleusen öffnen sich und lassen Wassermassen auf die Stadt hernieder, die die Kanalisation so schnell gar nicht schlucken kann. Autos fangen an, auf der Strasse zu schwimmen, und als Lilli zum Ausgang des Gebäudes geht, um sich die Strasse anzuschauen, kommt ihr im Treppenhaus ein nach Fisch riechendes Rinnsal entgegen. Lilli hastet zurück zu ihrem Büro und ruft zu Hause an. Kleiner Strolch ist da, Monsieur ist auch da, grosser Strolch ist beim Fussball. Lilli ist unruhig, an Arbeiten ist nicht zu denken. Plötzlich ist es nur noch wichtig, nach Hause zu fahren, um all ihre Lieben im Trockenen um sich zu haben wie eine Glucke ihre Küken. Monsieur ruft zurück, er ist unterwegs zum grossen Strolch und hat Angst, mit dem Auto im kniehohen Wasser steckenzubleiben. Der grosse Strolch ruft an und berichtet, mit dem Trainer heil nach Hause gekommen zu sein. Die Strolche rufen Monsieur an, der erleichtert wieder umdreht. Jetzt hat er Angst, dass die Garage unter Wasser stehen wird. Lilli läuft zum Zug, durch die unterirdischen Tunnel, um dem Wasser auf dem Gehweg auszuweichen. Die Tunnel stehen ebenfalls unter Wasser. Am Bahnhof erfährt sie, dass der Zug um 18 h 25 abgeschafft wurde, der nächste kommt um 19 h 45. Sie läuft zur Metro, durch stinkende Fluten. Als sie noch am Schalter steht, um die Fahrkarte zu kaufen, ertönt die Durchsage, dass der Metrobetrieb unterbrochen wird. Lilli läuft zurück zum Bahnhof, wartet 90 Minuten, kommt schliesslich gegen 20 h zu Hause an. Die Gehwege sind fast schon wieder trocken, als sei das Unwetter nur ein Hirngespinst gewesen. Aus dem Wohnzimmerfenster leuchtet golden die Stehlampe, ihre drei Männer sitzen auf dem Sofa und sehen fern. Lilli streift die nassen Schuhe von den Füssen und kuschelt sich dazu.
Lilli legt los - 31. Mai, 05:00
Wenn Lilli morgens läuft, trägt sie alte Jogginghosen, das T-Shirt vom Vortag und einen Wuselkopf, dem trocken keine Bürste gewachsen ist. Deshalb ist es ihr direkt peinlich, als sie plötzlich den grossen Strolch mit all seinen Freunden auf dem Schulweg trifft. Er aber winkt schon von weitem und ruft "Halloooo, Mamaaaa" über die Strasse. Er ist wirklich noch kein Teenager.
Lilli legt los - 30. Mai, 08:00
Eine Freundin von Lilli meldet sich nach langer Funkstille per e-mail. Funkstille nur deshalb, weil die Freundin sehr beschäftigt ist und Lilli auch. Ein paarmal schon haben sie versucht, sich zu treffen, und keinen Termin vereinbaren können. Komischerweise ist die e-mail aber auch noch an 8 andere, Lilli teils unbekannten Damen adressiert, und geht in etwa so: " Ich habe lange nichts von mir hören lassen, was aber nicht heisst, dass ich nicht an Euch denke. Mir geht es gut und zum Glück habe ich vor ein paar Monaten erfahren, dass ich nicht das Gen trage, das bei meiner Schwester und meiner Mutter Brustkrebs verursacht hat. Trotzdem will ich die Krebsforschung finanziell unterstützen und bitte Euch, das auch zu tun, indem ihr mir einen Scheck schickt, den ich dann zur X-Veranstaltung zugunsten der Krebshilfe mitnehme."
Ja. Nun. Sehr richtig und auch wieder irgendwie falsch, Freundschaft und gute Zwecke so zu verbinden. Freundschaft sollte zweckfrei sein, andererseits sind Freunde ja aber dazu da, helfend einzuspringen, wenn Hilfe erfordert wird. Schliesslich entscheidet Lilli, dass es ihr tausendmal lieber ist, der Freundin einen Scheck zu schreiben, als ihr einen Riesenblumenstrauss ans Krankenbett zu bringen.
Lilli legt los - 25. Mai, 18:28
Ein langes Wochenende fängt am besten mit einem Besuch im Videoclub an. Da Lilli in letzter Zeit viele von Männern ausgesuchte Film sehen musste, in denen die Handlung, so vorhanden, nur den Vorwand für Verfolgungsjagden, Kämpfe, Kriege und viel Geschrei liefert, gestattete sie sich einen emotionalen Dreierpack, der es in sich hatte: The Descendants (mit George Clooney, hervorragend), Extremely loud and incredibly close (mit Max von Sydow, hervorragend) und The Help (mit Jessica Chastain und Emma Stone, hervorragend). Nuancierte Gefühle, die sich durchaus widersprechen können, intelligente Leute, Kinder mit Macken und Mut - so ist Kino grosses Kino. Das auch Männern gefallen kann, doch doch.
Lilli legt los - 22. Mai, 10:04
Der grosse Strolch hat sein Fahrrad am Sportplatz vergessen, da Monsieur ihn anfeuern kam und sie hinterher zusammen im Auto heimgefahren sind, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, mit welchem Fortbewegungsmittel der grosse Strolch eigentlich zum Training gekommen war. Besser gesagt, er hat Lillis Fahrrad vergessen, da sein eigenes einen Platten hatte. Und den Helm natürlich mit dazu. "Aber angeschlossen war es doch?", fragt Lilli. "Nein", presst der grosse Strolch durch die Lippen und kämpft mit den Tränen. Am Trainingsplatz angekommen, stellt Lilli fest, dass ihr 20 Jahre altes Fahrrad durchaus noch Materialwert besitzen musste, denn es ist wie vom Erdboden verschluckt. "Da wird abends systematisch eine Säuberungsrunde gedreht, die sammeln alles ein, was tagsüber vergessen wurde, iPods, Wasserflaschen, Jacken, alles", bestätigt die Polizei. Lilli ist sauer. Auf die Diebe, auf Monsieur, auf den grossen Strolch, auf die Vergesslichkeit von Vater und Sohn, auf die Nachlässigkeit, mit der der grosse Strolch mit seinen (ihren!) Sachen umgeht, und darauf, dass dieser schöne Samstagmorgen mit Unnützem verplempert wird.
In all ihrer Wut weiss sie genau, dass ihre Reaktion auf mindestens zehn verschiedenen Stufen angesiedelt sein kann, und weiss nicht, welches Register sie ziehen soll. Sie sieht, dass es dem grossen Strolch leid tut, aber entschuldigen kann er sich nicht. Sie sieht, dass Monsieur sich Vorwürfe macht, aber auch, dass er eher wütend ist, vor Lilli schlecht dazustehen, als ehrlich zerknirscht. Lilli will schreien "Es war aber MEINS" und weiss, dass das lächerlich ist. Wieso gibt es eigentlich so viele Ratgeber darüber, was man bei Masern und Ohrensausen machen muss, und so wenige für all die anderen schwierigen Entscheidungen der Kindererziehung?
Lilli legt los - 20. Mai, 16:55