Lilli sieht dem grossen Strolch entgegen, der die Treppe zum Frühstück heruntergeschlurft kommt. Nach vorn gebeugt, die Hände in den Schlafanzugstaschen vergraben, der Gang schlenkerig und unkoordiniert. Fast 14 Jahre alt und so gross wie ein Mann, aber verletzlich wie ein Kätzchen, dem jemand die Milch wegzunehmen droht. "Du hast mal wieder die Nacht damit zugebracht, dir die Schultern breiter wachsen zu lassen", sagt Lilli zur Begrüssung. "Ach ja?", sagt der grosse Strolch, einen freudig-überraschten Funken im Auge. Sofort hält er sich gerader.
Lilli legt los - 11. Feb, 05:00
Der kleine Strolch und Lilli laufen, den Kopf gegen den auch hier sich bemerkbar machenden Blizzard gesenkt, über ein schneebedecktes Feld. Es ist das letzte Grundstück der Strasse, unbebaut und lieblos mit Schotter zugeschüttet und mit wucherndem Unkraut übersät. Jetzt hat der fauchende Wind Wellenlinien in den Schnee geschnitten, die an Sanddünen erinnern in blitzendem Weiss. "On dirait des vagues", sagt Lilli zum kleinen Strolch. "Mais oui, maman, c'est un terrain VAGUE", sagt der und grinst. Wieder einmal bekommt Lilli bestätigt, was sie sich schon lange denkt: der Junge hat die Schönheit seines Vaters und die Intelligenz seiner Mutter.
Lilli legt los - 10. Feb, 12:48
Die
Waschmaschinentortur ist gar keine. Tatsächlich hat es der grosse Strolch auf den letzten Drücker fertiggebracht, seine T-Shirt zu waschen, zu trocknen und so zusammenzulegen, dass das Ergebnis zu keinerlei schulischen Strafmassnahmen geführt hat. Was Lilli wie eine Revolution vorkam, hätte sie mal schon letztes Jahr machen sollen.
Lilli legt los - 7. Feb, 18:22
Gestern im Yogakurs ist das Unsägliche passiert. Jemand hat..., jemand ist..., also jemandem ist bei grösster allgemeiner Stille ein Wind entwischt. Prutt hat es gemacht und Lilli war nur froh, dass sie es nicht war. Danach musste jeder sich ein Mudra - eine Fingerübung - aussuchen und die Position drei Jahre lang halten. Lillis Mudra sollte ihr helfen, über Zeitmanagement (ha!) und Prioritäten zu meditieren. Tatsächlich hat Lilli es geschafft, trotz ihrer prickelnden Finger und der leiernden Begleitmusik ihr gesamtes Zeitmanagement für den Rest der Woche durchzugehen. "Und, wie war dein Yoga?", wollte Monsieur hinterher wissen. "Hilfreich", sagte Lilli.
Lilli legt los - 6. Feb, 11:21
Eloïse Brodeur heisst die Künstlerin und sie malt Kühe.

Das wusste Lilli schon eine ganze Zeit, aber erst jetzt konnte sie die Tiere in Augenschein nehmen - und hat sich glatt verliebt. In Theodor, American Idol und wie sie alle heissen. Diese Ruhe, diese Kraft, dieses ernste In-Frage-Stellen berührt sie, die früher immer vor Kühen Angst hatte. Nur: die Frau wird von einer richtigen Galerie vertreten und ist dementsprechend richtig teuer. Lilli wird wohl doch nicht demnächst zur Kunstsammlerin werden. Der kleine Strolch hält ihr Spielgeld hin: "Hier, Mama, ich geb dir 15 000 Dollar Taschengeld." Ja, damit könnte man glatt ein Grossformat erstehen.
Lilli legt los - 5. Feb, 18:28
Der grosse Strolch soll ab jetzt seine Schul-T-Shirts selber waschen. Es hätten ja auch die dunklen Sachen sein können oder einfach so eine Maschine pro Woche, aber Lilli ist da ganz gerissen: Wäre es lediglich "eine Maschine", gäbe es kaum Konsequenzen, so er es denn vergessen sollte - mehrere Leute hätten dann zwar keine Unterwäsche oder Strümpfe, aber die kann man sich inzwischen ja auch aus der Schublade des Bruders/Vaters oder zur Not auch aus Lillis Stapeln holen. Vergisst er aber, seine Schul-T-Shirts zu waschen, von denen er genau fünf besitzt, muss er sich entweder eins in der Schule gegen hartes Geld ausleihen oder er zieht ein schon benutztes wieder an. Ha! Am Wochenende fühlt sich Lilli gnädig und erinnert ihn ein paarmal daran, die Waschmaschine nicht zu vergessen. Der grosse Strolch sagt "ja" und rührt sich nicht vom Fleck. Die Spannung wächst. Am Montagmorgen findet er tatsächlich noch ein sauberes T-Shirt - das letzte - und geht fröhlich in die Schule. Am Abend wird er waschen müssen, da führt kein Weg dran vorbei. Lilli kaut nervös auf ihrer Unterlippe rum. Erziehung ist manchmal Folter, auch für die Eltern.
Lilli legt los - 4. Feb, 12:00
Lilli liest "Broken Harbour" von Tana French, eine Empfehlung ihrer Nichte. Der Kriminalkommissar und sein Assistent nehmen den Tatort in Augenschein und befragen die Nachbarn. Sämtliche Indizien werden registriert, von den gerahmten Kinderbildern und der aufgeräumten Küche der Opfer, bei denen seltsamerweise Löcher in den Wänden zu sehen sind, die nicht vom Mord herrühren, da keinerlei Gipsspuren vorhanden sind, bis hin zum benutzten Teller, der bei den schlampigen Nachbarn (zu grosses rosa Sweatshirt und zu enge graue Leggings) auf dem Wohnzimmertisch steht. Lilli lässt den Blick um sich und auf sich schweifen und hofft, dass jetzt kein Mörder kommt. Lieber erst am Donnerstag, wenn die Putzhilfe da war.
Lilli legt los - 4. Feb, 10:11
Am Sonntag ist wieder Alptraum Superbowl. All diese Menschen, die bei Lilli fernsehend auf dem Sofa sitzen werden, einen Teller mit Hefezopf und ein Bier in der Hand jonglierend, und sich freuen, einen "richtig deutschen Kuchen" zu essen... ihnen würde Lilli gerne erklären, dass Hefezopf in Deutschland gar nicht als Kuchen anerkannt ist, dass man dort auch keinen Kuchen vor dem Fernseher essen würde, und schon gar nicht bei jemand anderem, und auch nicht mit Bier, sondern mit Kaffee und Sahne. Dass man Kuchen nicht als Nachtisch nach Fingerfood isst, sondern nachmittags, gepflegt am Tisch und möglichst mit zwei, drei Sorten zur Auswahl und einer Gabel. Aber nein, Lilli wird nichts erklären. Abgründe braucht man nicht zu erklären, solange man sie locker überspringen kann wie Lilli, die diese Leute, die da auf ihrem Sofa sitzen werden, gern hat, obwohl sie keine deutschen Kaffeetrinker sind. Sie haben andere Vorzüge. Nur, dass sie Football mögen, ist wirklich schade.
Lilli legt los - 1. Feb, 17:24
So

sieht Lillis neue Badewanne aus. "Baden dient nicht der Säuberung des Körpers, sondern der Kontemplation. Somit ist Baden eine Geste der Reinigung des Geistes, der Erhebung des Menschen über seine körperliche Existenz", liest Lilli aus einer ihrer Deko-Zeitschriften vor, die sie sich seit zwei Monaten intravenös spritzt.
"Eine Schuhschachtel", sagt der kleine Strolch.
"Ein Kindersarg", sagt Monsieur.
"Ein Marshmallow", sagt der grosse Strolch.
"Ihr habt doch alle keine Ahnung", sagt Lilli.
Lilli legt los - 1. Feb, 05:00
Manche Yogastellungen kennt Lilli schon vom Badewannenputzen.
Lilli legt los - 31. Jan, 18:55
Aus beruflichen Gründen interessiert sich Lilli fürs Älterwerden, eine mit Klischees und Vorurteilen überhäufte, dennoch für viele Leute unerlässliche Lebensstufe. Wie schön, dann zufällig auf
Super Mamika zu stossen, die mit ihren 93 Jahren macht, was ihr gefällt.
Lilli legt los - 29. Jan, 09:45