Beim Zurückkommen gibt es so ein paar Momente, wo man das Zuhause mit kritischen Augen ansieht, die sich zwei Wochen lang an deutschen Infrastrukturen laben konnten. Da kommt einem der eigene Wäscheständer plötzlich arg wackelig vor, da ärgert man sich aufs Neue über den Parkplatz am Sportzentrum, der keinerlei sichere Wegstrecken für Fussgänger vorgesehen hat und sieht kritisch auf die Salzränder, die seit Jahren schon fleissig die Betonstufen der Eishalle zerfressen. Dann aber trudeln die anderen Eltern der Eishockeyspieler ein, wünschen ein frohes neues Jahr, nehmen einen in den Arm, fragen nach der Deutschlandreise und dem Gesundheitszustand von Lillis Eltern und erzählen selbst von Familientreffen und Silvesterfeiern. Die dadurch entstehende Wärme muss wohl den Blick etwas trüben, denn die Deutschlandbilder werden unscharf, während man gleichzeitig immer froher wird, wieder bei den Leuten zu sein, die man sich ausgesucht hat.
Lilli legt los - 13. Jan, 11:56
Knappe drei Kilo lila Schokolade. Lebkuchengewürz. Glühfix für Glühwein. Gelfix für Marmelade. Ochsenschwanzsuppe für die Kollegin, die Schweizer Wurzeln hat. Fünf Romane aus dem Bücherregal der Mutter, die froh war, ein paar Titel los zu sein. Eine Handvoll alte Fotos, auf denen Lilli 21 ist und lange Haare hatte. Eine neue Jeans (nicht, weil sie in Deutschland billiger sind, sondern weil Lilli endlich mal Zeit hatte, einzukaufen). Vier Flaschen Trollinger (nein fünf, weil Monsieur eine noch geschmuggelt hat). Schnupfen.
Was sie auch noch gerne mitgebracht hätte, wenn es denn ginge: Maultaschen. Saitenwürstchen. Rauchfleisch. Laugenwecken. Oma und Opa für die Strolche. Das städtische Hallenbad mit seiner Fensterfront und dem wenig frequentierten Überlaufbecken. Zeit fürs Stricken.
Lilli legt los - 12. Jan, 09:00
Wenn kurz hinter Bad Cannstatt auf der B14 plötzlich alle Leute 40 fahren, liegt das entweder daran, dass Schilder mit der Aufschrift "Luftreinhaltung" dazu auffordern oder dass die Ampeln bei 40 km/h auf Grün geschaltet sind. Ach ja, und Radarkontrollen gibt es natürlich auch. Diese Sprache verstand Monsieur dann plötzlich.
Lilli legt los - 11. Jan, 09:00
Noch was war in Deutschland auffällig, zumindest im Haushalt von Lillis Eltern: es werden gerne Produkte mit Parfüm gekauft, wo in Nordamerika Seifen, Bodylotions u.Ä. vermehrt ohne Duftstoffe angeboten werden. Die Handwaschseife im deutschen Klo zum Beispiel roch so appetitlich nach Aprikose mit Sahne, dass Lilli sich zurückhalten musste, um sie nicht von den Fingern zu lecken.
Lilli legt los - 10. Jan, 10:00
Streng nach dem Prinzip "Weniger ist mehr" (weniger Zeug im Koffer bedeutet mehr Platz für Schokolade) haben Lilli, Monsieur und die Strolche natürlich zum Rückflug nach Montréal die Winterstiefel angezogen. Bei der Sicherheitskontrolle mussten sie mit aufs Band gelegt werden. Als der Beamte die Stiefel des grossen Strolches sah, meinte er scherzhaft: "Wo willst Du denn mit solchen Stiefeln hin? Nach Sibirien?"
"Schlimmer", hätte da der grosse Strolch antworten sollen.
Lilli legt los - 9. Jan, 18:08
Lilli war zwei Wochen lang in Deutschland, was mindestens fünf Tage zu lang war. Es ist nicht einfach, als Erwachsene zurück zu seinen Eltern zu kommen und dort wieder Kind sein zu müssen, das zwar nicht kochen, aber Tischdecken darf und dem man lieber die Unterwäsche wäscht, als das Spezialprogramm der Waschmaschine zu erklären. So ein Zurückkommen ist immer eine Achterbahn der Gefühle, wobei Lilli noch nie gerne Achterbahn gefahren ist und Gefühle, mit viel Gutsle und Saitenwürstchen gemischt, dick machen. Es war warm in Deutschland und trübe, was das Autofahren leichter macht als in Montréal im Moment, das Spazierengehen aber erschwert. Lilli hat neue Wörter gelernt: schranktrocken, lendenlahm und - ganz oft gesehen - barrierefrei. Wobei nicht nur Schwimmbäder neuerdings barrierefrei sind, sondern auch Museumsbesuche, womit auch gemeint sein kann, dass es eine Führung für Hörgerätträger gibt oder eine in vereinfachtem Deutsch für Einwanderer. Es gibt aber auch ganz viele englische Ausdrücke, die Lilli sauer aufstossen, da in Montréal Englisch gesetzlich verboten wird, um die französische Sprache vor dem Aussterben zu bewahren. Sale, Fashion, Beauty, Fun - muss das alles auf Englisch gesagt werden? Anscheinend ja. Andererseits fällt Lilli auch Positives auf: wie durchdacht die Deutschen den ihnen zur Verfügung stehenden Raum nutzen, was manchmal seltsame Balkon- oder Parkplatzgrundrisse gibt, immer aber den Menschen zugute kommt. Wie qualitativ hochwertig die angebotenen Nahrungsmittel sind, Brot natürlich inklusive, ohne besonders teuer zu sein. Wie hübsch sich die Dörfer in die Landschaft schmiegen, ohne von Autobahnen durchschnitten zu werden. Wie viele Cafés es in einer Stadt geben kann, in denen es ausser Muffins auch noch Zwetschgenkuchen mit Streuseln gibt, und natürlich Sahne. Der absolute Hit: wie weich und dick das deutsche Klopapier ist! Ah, der Genuss.
Letztendlich aber war es beruhigend, sich auf sein Zuhause zu freuen und festzustellen, dass es tatsächlich das Zuhause ist, so fremd es auch vor zwanzig Jahren anmutete.
Lilli legt los - 8. Jan, 11:58
Die Drogerie-Kette Pharmaprix hat dieses Jahr keine Weihnachtsbäume aufgestellt. Die Läden sind mit abstrakteren Dekorationen geschmückt, stilisierten "Bäumen" in Pyramidenform, Sternen und anderen neutralen Sachen, die festlich aussehen, ohne allzu christlich zu wirken. Nun, das ist der Zeitgeist heuer in Québec, hier geht es um die Trennung von Staat und Kirche, die Verbannung von Glaubenssymbolen im öffentlichen Dienst oder gar in der Öffentlichkeit kurzum. Warum jetzt aber die verschwundenen Drogerie-Christbäume Schlagzeilen machen? Weil Kunden sich darüber beschwert haben. So sieht's aus. Wenn die Leute schon Parfüm kaufen sollen, möchten sie bitteschön in Weihnachtsstimmung versetzt werden, wie es sich gehört, so richtig anständig mit einem Tannenbaum.
Lilli legt los - 19. Dez, 16:44
Lilli hat Sch-sch-schüttelfrost und alle anderen Symptome, die zu einer Grippe gehören. Sie kann weder schmecken noch richtig hören noch lachen (tut in der Stirnhöhle weh). So kurz vor Weihnachten ist das richtig be-sch-sch-schissen.
Lilli legt los - 17. Dez, 18:06
Die Deutschlehrerin war am Sonntag zum letzten Mal da. Sie hat in den sechs Kursen ein ehrgeiziges Programm abgewickelt: Orts- und Zeitangaben (man sagt "am Dienstag, am Morgen, aber in der Nacht"), regelmässige und unregelmässige Verben, zusammengesetzte Verben, Präsens und Perfekt, Nebensätze mit "wenn, ob, weil", sogar Weihnachtslieder hat sie mit den Strolchen gesungen. Lilli will wissen, ob sich die Strolche jetzt gut auf ihre Deutschlandreise vorbereitet fühlen, ob der Deutschunterricht wirklich was gebracht hat? "Bloss a bissle", sagt der grosse Strolch in perfektem Schwäbisch und grinst. Das hat ihm sein Opa schon beim letzten Besuch vor drei Jahren beigebracht.
Lilli legt los - 17. Dez, 10:36
Lillis Film ist fertig. Die letzten Wochen über hat sie die Strolche im Alltag gefilmt, um ihren Eltern an Weihnachten zeigen zu können, wie das Leben so im Lillischen Haushalt abläuft. Das Ergebnis kann als holpernd bezeichnet werden, schliesslich ist es das erste Mal, dass sie mit Windows Movie Maker arbeitet. Dennoch ist es rührend, die eigenen Kinder auf dem Bildschirm zu sehen, und die Begleitmusik macht den Schokoguss drüber, der garantiert, dass Lilli in ein paar Jahren die Tränen kommen werden, wenn sie den Film dann in einem Anfall von Nostalgie wieder anschaut. Entscheidende Momente aber fehlen im Video, weil keiner dran denkt, in intensiven Augenblicken zur Kamera zu greifen. Entweder ist man mit drin und darf fühlen, oder man filmt als Aussenstehender und verewigt den Moment, ohne ihn zu erleben. Weshalb Lilli zwar weiter filmen, sich aber nicht zur Dokumentaristin ihrer Familie entwickeln wird. Starke Momente werden fehlen in ihrer Filmographie. Da ist ihr das Erleben wichtiger als das Verewigen.
Lilli legt los - 18. Dez, 10:45
Heute im Radio gehört: ein Elektronikfachgeschäft wünschte nicht "Joyeux Noël", sondern "Joyeux gadgets". Besser hätte Lilli ihre weihnachtliche Konsumaversion nicht auf den Punkt bringen können.
Lilli legt los - 16. Dez, 10:25
Lilli steht im Montrealer Kongresszentrum vor einem Schmuckverkaufsstand und lässt bewundernd eine lange Kette mit grossem Medaillon durch die Hand gleiten. "Na, da wird Monsieur aber tief in die Tasche greifen müssen", hört sie plötzlich eine Stimme hinter sich. Eine frühere Kollegin von Monsieur, die eigentlich immer ganz nett war, jetzt aber nichts besseres wusste, als mit diesem platten Spruch auf Lilli zuzugehen. "Das gibt eher ein Geschenk von mir für mich", meint Lilli und hofft, damit signalisiert zu haben, dass sie nicht nur als (monetär abhängiges) Anhängsel ihres Mannes, sondern durchaus als Einzelmensch existiert, der nicht nur zuhause sitzt und darauf wartet, gnädig beschenkt zu werden. Je länger Lilli darüber nachdenkt (und schreibt), um so unmöglicher findet sie die Frau.
Lilli legt los - 6. Dez, 18:17