Mitmenschen
Manchmal kommt Lilli sich vor wie ein Dinosaurier. Sie scheint weit und breit die Einzige zu sein, die es mit Unbehagen sieht, wenn ihre Strolche mehr als eine Stunde pro Tag am Computer zubringen. Sie findet Computerspiele fast ausschliesslich intellektuell unergiebig und sieht darin keinerlei Nutzen für ihre Kinder. Jeder andere Zeitvertreib - Lesen, Skateboardfahren, Poker spielen - kommt ihr sinnvoller vor als das wiederholte Tippen auf Tasten, um Labyrinthe zu meistern oder Zombies zu töten. Sie versteht nicht, warum Kinder in den Ferien mit dem Nachbarsjungen skypen, anstatt sich zu treffen. Sie versteht nicht, warum die Freunde des kleinen Strolches bis zwei Uhr morgens am Computer, der übrigens im Kinderzimmer wohnt, spielen dürfen. Warum deren Eltern Call of Duty kaufen. Warum diese Kinder ein iPhone haben müssen, selbst wenn sie die monatlichen Kosten (bis zu 25 $ !?!) selbst tragen - was haben denn die überhaupt für Taschengeld, wenn sie monatlich so viel Geld ausgeben können? Beim Abendessen kämpft Lilli mit allen Mitteln, um für das "richtige Leben" zu plädieren. "Richtig" Tennis spielen ist anders als Tennis auf der wii, da spürt man das Gewicht des Schlägers und muss seine Länge abschätzen können, da fühlt man den Wind, riecht den Boden und der aufspritzende Sand kitzelt in der Nase. Wer denkt, ein Computerspiel könne all das ersetzen, wird bald zum menschlichen Krüppel. Wie sollen Kinder die Mimik ihres Gegenübers einschätzen können, ironische Untertöne heraushören oder Sarkasmus erkennen können, wenn sie das Miteinander nicht von klein auf üben? Wenn sie nur noch per Computer miteinander umgehen? Der kleine Strolch lacht über die Nerds in Big Bang Theory - haha, wie unbeholfen die sind, wie lächerlich! - und ahnt nicht, dass er später mal von genau solchen Leuten umgeben sein wird. Leute, die eine Anstecknadel mit einem Smileyface am Revers tragen müssen, um darauf zeigen zu können, wenn sie einen Witz machen...
Lilli legt los - 7. Aug, 10:03
Ein einsamer roter Platz in einem Meer aus grünen Klappsitzen: Die Amerikaner wissen schon, wie man Legenden heranzüchtet...
Auflösung: Der längste Homerun, der je innerhalb des Fenway Park Stadions ("Home of the Boston Red Sox") geschlagen wurde, traf auf diesen Sitz - auf dem ein Zuschauer gerade ein Schläfchen hielt. Solche interessante Sachen lernt, wer mit drei Männern Stadtbesichtigung macht.
Lilli legt los - 18. Jul, 10:13
Wenn Lilli einen Zickentag hat, macht sie Sachen. Zum Beispiel bei der Stadtverwaltung anrufen, damit die mal kommen und am Zaun zum Nachbarn messen, wie viel Dezibel eigentlich seine neue Schwimmbadpumpenfilteranlage abgibt. Hah - 9 Dezibel zu viel, sie hat es doch gewusst. Zwei Wochen später ist der Nachbar dabei, um besagtes Gerät einen Holzschuppen zur Schalldämmung zu bauen. Die Zicke in Lilli ist darüber sehr froh und lässt sogar das stundenlange Hämmern und Sägen klaglos über sich ergehen.
Lilli legt los - 1. Jul, 14:11
Lilli sieht schon von weitem, dass auf dem Fahrradweg vor ihr jemand läuft. Ein FUSSGÄNGER auf dem Fahrradweg! Noch dazu so einer, der die Arme an den Körper gelegt hat und mit dem Kopf leicht gesenkt so langsam läuft, dass klar ist, was er macht: der Mann TEXTET!!! Leichtes Grummeln steigt in Lilli auf, denn solche Leute haben auf dem Fahrradweg nichts verloren. Sie sind lästig, gefährlich und verboten, und das sind sogar zwei Gründe mehr als nötig, um so jemanden sofort gedanklich auf den Mond zu schiessen. Als Lilli ihn überholt (extra dicht, um ihm ordentlich zu spüren zu geben, dass er ein unerwünschtes Element ist) und ihm dabei einen ihrer berühmten strafenden seitlichen Blicke zuwirft, sieht sie erst: der Mann textet nicht, er bindet ein paar Streublümchen - Margeriten, Kornblumen, gelbes Zeug - zu einem Blumenstrauss zusammen. Lilli verzeiht ihm augenblicklich.
Lilli legt los - 22. Jun, 15:20
Lilli hat ja keine Ahnung, wie so ein Stöckchen-Dings funktioniert. Wer hat denn Lust, seinen eigenen Arbeitsweg photographisch zu documentieren? Vielleicht Herr T.M.? Die liebe Nessy? Frau Chameleon? Hm?
Lilli legt los - 18. Jun, 18:52
Lillis Kollegin erzählt stolz, dass ihr Freund "die grosse Frage" gestellt hat. "Er will dich heiraten?", fragt jemand entzückt nach. "Nein, ein Haus kaufen", kommt die trockene Antwort. Sowas nennt Lilli "auf der Bank heiraten".
Lilli legt los - 13. Jun, 10:53
Fred Pellerin ist ein Erzähler. Er stellt sich auf die Bühne, inzwischen auch in Paris, und erzählt aus seinem Dorf Saint-Élie-de-Caxton. Die meisten Geschichten hat ihm seine Oma erzählt, mit der er durchs Dorf laufen musste, um ihren Blutzuckergehalt runterzudrücken. Bei jedem Haus fiel ihr eine Geschichte ein - hier der Schmied mit der schönen Tochter, hier der Friseur, der gerne zuviel trank, dort drüben die Autowerkstatt, in der die Leute abends zusammenkamen, um Dame zu spielen - und der Enkel hat die Geschichten in seinem Herzen aufbewahrt, aufblühen lassen, mit viel Liebe zur Sprache und noch mehr Phantasie zu wahren Schmuckstücken der Erzählkunst aufpoliert. Wenn er von früher erzählt, hört man zwar das Feuer im Kamin prasseln, es ist aber kein nostalgisches, volkstümlich kariertes Mundartfeuer, wie man vielleicht befürchten könnte, sondern ein kraftvolles, zeitloses Feuer der menschlichen Natur, das zarte Momente genauso wie Ängste, Zweifel und andere vermischte Ausdrucksformen der Seele an die Wand wirft, wie es eine Multimediainstallation nicht besser machen könnte. Lilli würde gerne zu einer seiner Shows gehen, wenn sie nicht ständig ausverkauft wären. Zwei Filme sind aus seinem Erzählwerk hervorgegangen, die gut sind, aber anders als dieser lustige Mensch mit der runden Brille, der mit den Händen nach Worten ringt. Lilli kennt kein deutsches Gegenstück zu ihm.
Lilli legt los - 11. Jun, 09:00
Lillis Küchenradio, das sie zu Weihnachten geschenkt bekommen hat, zeigt "Good Bye" an, wenn sie es ausschaltet. Zuerst fand sie das ausgesprochen nett und höflich - eine Maschine, die gute Manieren hat, das ist doch toll! Bis ihr auffiel, dass es nicht auch "Hello" anzeigt, wenn sie es einschaltet. Das nimmt sie der Maschine jetzt übel, diese halbe Höflichkeit, diese halbherzige Art, dieses Sich-nicht-zu-sehr-anstrengen-Wollen. JA, WO SIND WIR DENN HIER? Warum nur um alles in der Welt gibt sich ein Programmierer die Mühe und programmiert EINE EINZIGE Höflichkeitsfloskel??? Es gibt Tage, da nimmt Lilli das der Maschine wirklich krumm.
Lilli legt los - 19. Mai, 12:33
Komisch: wenn man dicke Leute in der Hitze sieht, denkt man sofort: Mann, was muss der schwitzen. Bei minus 20 Grad denkt man aber nicht: Mann, muss es dem jetzt kuschelig warm sein.
Lilli legt los - 9. Mai, 10:35
Lilli geht nur noch selten auf die Bank, aber heute muss sie. "Ich hätte gern einen Fünfhunderdollar-Schein", sagt sie der Dame. Die guckt etwas verwirrt, als hätte sie nicht richtig verstanden. "Sie wollen fünf Hundertdollar-Scheine?", fragt sie auch gleich nach. "Nein, einen Fünfhundertdollar-Schein", wiederholt Lilli. Wieder guckt die Dame skeptisch, dann sagt sie: "Das gibt es hier nicht. Es gibt nur Hunderter." Lilli starrt neben sich auf den Boden, aber es tut sich kein Loch auf, in das sie verschwinden könnte.
Lilli legt los - 1. Mai, 12:23