Mitmenschen

Mittwoch, 21. September 2011

Blinde ohne Grenzen

Lilli kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Als sie einem Kollegen bei einer Preisverleihung hilft, steht sie just an der Tür, durch die die Rollstuhlfahrer in den Saal gelangen. Und diese Rollstühle heutzutage: so lang wie ein Wohnmobil und so geräuschlos wie ein Augenaufschlag; es ist ein Wunder, wie gut die Leute damit umgehen können. Zu guter Letzt kommt noch eine blinde Frau im Rollstuhl, die genauso elegant wie alle anderen durch die enge Tür fährt und dabei ihren Blindenhund so selbstverständlich neben sich führt, als handele es sich um ihre Handtasche. Lilli denkt zum Glück daran, die Hand der Frau mit dem Programmheft zu berühren, anstatt es ihr lediglich unter die Nase zu halten, muss aber daran erinnert werden, ihr die Gewinnnummer vorzulesen: "Wissen Sie, ich bin blind", erklärt die Frau ganz freundlich, als hätte Lilli das nicht erahnen können. Lilli zieht eine Grimasse, die die Frau zum Glück nicht sehen kann.

Hinterher erfährt Lilli von ihrem Kollegen, dass alle Anwesenden im Saal Kandidaten für die Preisverleihung waren. Alle hatten am Wettbewerb teilgenommen und hofften darauf, ausgezeichnet zu werden. An einem GÄRTNERwettbewerb, wohlgemerkt. Auch die Rollstuhlfahrer. Und auch die blinde Rollstuhlfahrerin, die ihren Hund jedesmal zum Sitzen zwingen musste, wenn die Leute um sie herum zu laut klatschten.

Montag, 19. September 2011

Blind date

Auf dem Nachhauseweg bemerkt Lilli einen Mann mit Blindenstock, der etwas verloren an einer Fussgängerampel mitten in Montreal's Innenstadt steht. "Kann ich ihnen helfen?", fragt sie den Mann, der ihr daraufhin geniert zulächelt. "Das wird nicht nötig sein", sagt er auf französisch mit starkem englischem Akzent. Lilli schaut zweifelnd auf den Verkehr, wünscht ihm einen schönen Abend und geht ein paar Schritte weiter. Dann dreht sie sich aber doch wieder um. Wie wird der Mann erkennen, dass die Ampel auf Grün schaltet, wo es doch kein Modell ist wie in Madrid, wo die Fussgängerampeln wie Vögel zwitschern, sobald das Gehen erlaubt ist? Obwohl sie auf den Zug muss, will sie wissen, wie die Geschichte ausgeht. Da - die Ampel springt auf Grün, der Mann tastet sich mit Hilfe seines Stocks bis an den Gehwegrand, dann läuft er beherzt über die Strasse. Seine Augen sind durch die stark getönte Brille nicht zu erkennen, aber dass er stolz auf seine Selbständigkeit ist, ist jedem seiner Schritte anzusehen.

Montag, 12. September 2011

Hallo Kinderdoc

Die Inspiration stammt von ihm. Ob Lilli damit die J1-Prüfung besteht?

Das einzig Dumme ist... nicht zu fragen, wenn man Fragen hat.

Die meisten Mädchen... werden irgendwann erwachsen.

Heimlich... stelle ich mir manchmal vor, wie es wäre, ein ganz anderes Leben zu leben. Dann schüttele ich den Kopf und beisse in einen Pfirsich.

Ich finde es scheusslich... wie es in der Welt zugeht.

Manchmal träume ich... ganze Romane. Davon wache ich dann unausgeschlafen auf.

Hoffentlich... bleiben wir alle gesund, den Rest kriegen wir schon hin.

Meine grösste Sorge ist... mir später mal vorwerfen zu müssen, früher nicht den Augenblick genossen zu haben.

Dienstag, 30. August 2011

Lilli und die Schnäppchen

Lilli ist seit ihren Studententagen auf Schnäppchenjagd. Gestaltet ihren Essensplan um die Sonderangebote im Supermarkt herum, kauft auf Vorrat, wenn es gerade billig ist, und sammelt Treuepunkte, wo es nur geht. Diesen Sommer hat sie ihre Manie noch ein bissel weitergetrieben und eine Freundin zu Costco begleitet. Ein Club, in dem man zahlendes Mitglied sein muss, um alles noch ein bisschen billiger zu bekommen. In Grosspackungen. In Gigariesenpackungen, die auf Paletten bis unters Dach gestapelt sind, dass jeder Ikea-Lagerleiter seine Freude dran hätte. Das Einkaufserlebnis ist umwerfend. Lilli und ihre Freundin rechnen und vergleichen, was das Zeug hält. Im Prinzip ist ALLES bei Costco billiger als im Supermarkt, und unterkriegen wird man die 16 Liter Saft und die 80 Rollen Klopapier schon irgendwo.

Zwei Tücken warten auf Lilli, sobald sie die Haustür hinter sich hat zufallen lassen: erstens sieht das Zeug in der Costco-Halle kleiner aus als in ihrem Keller. Zweitens hat sie die Füllmenge ihres Gefrierfaches überschätzt.

Die dritte Tücke offenbart sich erst nach einer Woche: je mehr im Haus ist, um so mehr wird konsumiert. Was nicht so sehr auf die 80 Rollen Klopapier zutrifft, auf die 12er-Packung Schokoladenpudding aber sehr. Monsieur bietet die Theorie an, dass sich manche davon in Luft auflösen.

Mittwoch, 24. August 2011

Einkaufen im Internet

Die Eishockeysaison des grossen Strolches geht nächsten Montag wieder los und endlich ist geklärt, wie Mitspieler T. zu seinem "Jackstrap" im Leopardenmuster kam. Sein Vater hat es gestanden: er war der Meinung, "animal print" wäre ein Stoffmuster mit kleinen Tieren drauf.

Montag, 1. August 2011

Kein Anschluss unter dieser Nummer

Lillis Ferienimpressionen (I):

"Wer ist da?", faucht die Grauhaarige und leuchtet den Strand mit einer Taschenlampe ab. Ein Strolch taucht im Lichtkreis auf und duckt sich, da er gerade ein Feuerchen anzuzünden versucht. "Du da! Mach hier kein Feuer!", faucht sie weiter. "Kein Feuer! Hier bin immer noch ich die Besitzerin. Hier wird kein Feuer am Strand gemacht, das ist gefährlich." Die Grauhaarige schwenkt noch ein paar Mal die Taschenlampe über den steinigen Grund, dann knipst sie sie wieder aus. Sie brummelt weiter vor sich hin, als ob das Schimpfen wichtiger wäre als das Gehörtwerden. Vom Zauber der Sommernacht bleibt sie unberührt. Schade, denkt Lilli, dass ihre Schwiegermutter so gar keinen Draht zu ihren Enkeln hat. Oder zu Menschen überhaupt.

Montag, 25. Juli 2011

Lilli als Meerjungfrau

Seit drei Wochen ist es ununterbrochen heiss hier in Montreal. Heiss genug, um das unbeheizte Freibad auf freundliche 28 Grad aufzuheizen. Lilli schwimmt fast jeden Tag. 40 Bahnen schafft sie inzwischen, und das Zählen des Hin und Hers wird zur Meditation, sobald sie über die ersten zwei mühsamen Bahnen hinaus ist und die Bewegungen gleichmässig durch das Wasser pflügen. Hier ist Lilli in ihrem Element, obwohl sie den Hals starr über dem Wasser hält, um kein Wasser in ihr rechtes Ohr zu lassen. Obwohl sie nasse Haare nicht leiden kann. Obwohl kleine Blätter und (schlimmer) grosse Viecher im Wasser schwimmen und die Kinder im Nichtschwimmer nebenan spritzen. Das Schlimmste aber sind die Männer, die in der Bahn neben Lilli (der "schnellen" Bahn) kraulen und einen so miserablen Beinschlag haben, dass jedesmal ein Sturzbach auf Lilli niederregnet, wenn sie an ihr vorbeipreschen. Sehr brutal das, diese schiere, schlecht eingesetzte männliche Kraft, dieses Kämpfen gegen die Materie, fast ein Zweikampf zwischen Mann und Natur. Lilli hingegen will eins werden mit dem Wasser, spurenlos hindurchgleiten, als hätte sie einen Fischschwanz oder Schwimmhäute zwischen den Zehen...

Lilli hat keinen Fischschwanz, aber Lilli hat Beobachtungsgabe. Um 18 Uhr leert sich das Becken, denn dann geht der Kanadier abendessen. Und erst um 19 Uhr kommen die, die nach dem Essen noch eine Runde schwimmen, ins Bad. Deshalb schwimmt Lilli jetzt zwischen sechs und sieben relativ unbehelligt. Und meditiert.

Samstag, 16. Juli 2011

B-4, C-1, A-5...

Die letzten zwei Tage hat Lilli im Altersheim gegessen. Erst Tomatensuppe, Lachspastete (nun ja, Kartoffelpastete mit bisschen Lachs) mit Brokkoli, Rührkuchen mit Karamellsosse, dann Nudelsalat, Schweinebraten (an einem Freitag?), Kartoffel-und Karottenbrei, Karamellpudding. "Wenn ich jeden Tag so viel zum Mittagessen hätte, würde ich glatt zunehmen", stöhnt Lilli. "Das tun hier viele", erwidert der Koch stolz. Trotzdem sieht Lilli hauptsächlich schlanke Frauen um sich. Das viele Bingospielen scheint doch anstrengend zu sein.

Donnerstag, 7. Juli 2011

Lilli kommt unter die Räder

Lillis Schwester, die Religionslehrerin, hat oft Reissnägel auf der Zunge. Dann zerfetzt sie alles, was ihr in die Quere kommt, um so (wenn Lilli die Grosszügigkeit aufbringen kann, das Phänomen zu analysieren) sich selbst aufzuwerten, als ob sie das nötig hätte. Ihre letzten Opfer: die US-Amerikaner und die Kanadier. Also alle. Die konnte sie nämlich bei ihrer kürzlichen Reise ganz wunderbar an den Klamotten unterscheiden: die US-Amerikaner sehen grässlich aus (schlabbrige kurze Hosen, die unter dem Hängebauch hängen, und wild bedruckte Hemden), und die Kanadier sehen grässlich altmodisch aus (schlabbrige kurze Hosen, die bis zum Bauchnabel gehen, und hanebüchene Oberteile). Die französischsprachigen Kanadier genauso wie die anderen. So.

Lilli tut so, als ob es ihr nichts ausmacht, und ärgert sich doch darüber. So viel Kanadierin ist so also doch schon geworden, dass sie sich von dem Kommentar ihrer Schwester persönlich mit dem Traktor überfahren fühlt.

Montag, 4. Juli 2011

Duftnote

Ein Viersternehotel, das keinen Luftabzug im Badezimmer hat, hat seinen vierten Stern nicht verdient. Denn auch in einer 20-jährigen Beziehung will man dem Partner gewisse Sachen vorenthalten.

Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Status

Online seit 6222 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 23. Mai, 03:27

Credits

Web Counter-Modul


Laufen
Lillis Positiv-Pakt
Mitmenschen
Reise in den Abgrund
Selbständig arbeiten
Strolche
Zeitmanagement
Zonstiges
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
Blog Top Liste - by TopBlogs.de Blog Verzeichnis Bloggeramt.de