Mitmenschen
Lilli läuft nach Dienstschluss am Empfang vorbei. Eine Frau steht dort und sucht panisch nach einem Ansprechpartner. Obwohl Lilli ihr nicht helfen kann, bleibt sie stehen und fragt, ob sie helfen kann. Die Frau murmelt was von Adresse zuerst nicht gefunden, deshalb zu spät, aber doch so dringend, und es geht ihr nicht gut und gleich kriegt sie einen epileptischen Anfall. Lilli dreht sich auf dem Absatz um, läuft zurück ins Büro, sagt dort Bescheid, läuft zurück zu der Frau und bleibt bei ihr, bis jemand kommt und die Sache in die Hand nimmt. Dann erst geht sie die Treppen runter zum Ausgang. Sie ist ja sowas von erleichtert, diesmal spontan das Richtige getan zu haben. Und der
Kollegin mit den Bauchschmerzen geht es auch wieder gut.
Lilli legt los - 2. Jul, 04:00
Seit kurzem verwendet Monsieur seinen Blackberry als Wecker. Und hat ein Klingeln ausgesucht, das Lilli anfangs genial fand: es startet als sanft-fröhliche Musik, die bald darauf mit einem rhythmischen Pulsieren unterlegt wird, das sich gegen Ende hin zu einem unerträglich hartnäckigen Piepton verwandelt. Ein vollendetes Komponierwerk. Es hat nur den Nachteil, dass es Monsieur keinesfalls aufweckt, so hartnäckig der Piepton zum Schluss auch piepst. Lilli aber wird davon wach und tappst verwirrt durchs Haus (wo ist das Ding heute nun wieder? Oben? Unten? in der Mitte?), um den Schreihals abzustellen. Ganz sanft-fröhlich erwägt sie nun, den Blackberry im Aquarium versinken zu lassen. Wäre eine hübsche Deko neben dem mit Moos bewachsenen Eiffelturm.
Lilli legt los - 30. Jun, 05:01
Heute hat Lilli das Richtige und das Falsche getan. Und zwar nicht nacheinander, sondern gleichzeitig. Denn als die Kollegin über plötzliche Bauchschmerzen klagt und zuerst aufs Klo und dann doch lieber am Schreibtisch sitzten bleiben will, bietet Lilli an, ihr einen nassen Waschlappen zu holen, hastet aus ihrem Büro und den Gang entlang zur Küche. Jetzt, während sie diese Zeilen schreibt, sieht sie sich dort laufen, an Kollegen vorbei, die sich wohl fragen, warum Lilli es so eilig hat. Warum Lilli niemandem sagt, dass es der Kollegin schlecht geht, kann Lilli nicht sagen. Sie dachte ja nicht, dass die Kollegin ohnmächtig werden würde. Man denkt ja nicht, dass es war Ernstes ist, das passiert doch nur im Film... Man denkt ja nicht. Als Lilli mit dem nassen Waschlappen zurückkommt, hat bereits jemand anderes der Kollegin auf die Backen geklopft, um sie aus ihrer Ohnmacht zurückzuholen. Lilli legt ihr die nassen Tücher auf die Stirn und in den Ausschnitt, die Frau atmet schwer, wird weiss und dann wieder farbig. Jemand telefoniert mit dem Krankenwagen, das Wachpersonal bietet Hilfe an, die Sanitäter kommen und machen die Tür hinter sich zu. Jemand fragt Lilli, ob sie erzählen kann, wie die Frau ohnmächtig wurde. "Sie wurde nicht ohnmächtig, als ich bei ihr war, das ist erst passiert, als ich schon auf dem Flur war", stammelt Lilli und wünscht, sie hätte die Kollegin nicht allein gelassen.
Man denkt ja nicht.
Lilli legt los - 29. Jun, 04:00
O. war nicht nur Franzose, sondern auch Vegetarier, gab Monsieur weiter übers Telefon bekannt, damit Lilli auch die richtigen Sachen einkaufen und kochen konnte. Als O. dann endlich angekommen war, gab er zu, das mit dem vegetarischen Essen nur gesagt zu haben, weil es einfacher zu erklären sei als "koscheres Essen". Da hätte Lilli tatsächlich einiges an Wegstrecke zurückzulegen gehabt, um koscheres Fleisch zu finden - nicht, dass dies in Montreal schwierig aufzutreiben ist, man muss nur in die richtigen Viertel der Innenstadt eintauchen. Als Anhänger des jüdischen Glaubens war O. ein interessanter Gesprächspartner, und besonders gern hätte Lilli mehr darüber erfahren, wie das Verlieben in jüdischen Kreisen vor sich geht. Denn wer eine jüdische Familie haben will, braucht eine jüdische Frau, was doch irgendwie heisst (denkt sich Lilli), dass man alle anderen Frauen automatisch ausschliesst...
Nun, Lilli hat sich zurückgehalten, schliesslich ist O. eine neue Bekanntschaft, die man nicht gleich mit allzu persönlichen Fragen vergraulen möchte. Vielleicht kommt O. ja mal wieder...
Lilli legt los - 8. Jun, 10:43
Am Wochenende kommt einer von Monsieurs Kollegen zu Besuch. Aus New York. "Na, das wird ja nicht zu schwierig sein", denkt sich Lilli und setzt schon mal frischen Lachs (Spargelrisotto?), Käseplatte und zum Frühstück Croissants (Schoko oder Marzipan) auf die mentale Einkaufsliste. "O. ist Franzose", gibt Monsieur weitere Details bekannt. Oha, da sieht es mit dem Beeindrucken schon anders aus...
Lilli legt los - 1. Jun, 18:40
Lilli lebt in einer hübschen Wohngegend. Manche würden sie vielleicht monoton nennen (da hätten Sie unser Viertel mal vor 10 Jahren sehen sollen, als die Bäume gerade erst gepflanzt waren!) oder hämisch sogar von Vorstadteinheitsbrei sprechen, aber die kennen ja Lillis Nachbarn nicht. Für Lilli sieht jedes Haus anders aus: bei R., die in New York ohne nennenswerte Folgen Schauspiel studiert hat und vor 8 Jahren Gebärmutterhalskrebs hatte, steht eine Kastanie, die gerade rosa blüht. Die ältere Frau gegenüber, die so einen schicken kleinen Volvo fährt, wohnt mit einem so jungen Mann, dass alle Spekulierungen (Mann? Sohn? Adoptivbruder?) erlaubt sind. Die Leute nebenan haben ihren Garten zugepflastert, damit sie kein Gras mehr mähen müssen und die Kinder sich nicht schmutzig machen. Etwas weiter oben wohnt ein Hund mit drei Beinen, der so ziemlich das Coolste ist, was es unter Hünden gibt, ausserdem hat er zwei schwule Herrchen, von denen einer mal in einer Zaubersendung im Fernsehen zu sehen war. Viele dieser Leute fahren im Sommer ganz weit weg in den Urlaub - also nach Spanien oder Italien, was für Kanadier ja ein ganzes Stückchen weiter ist als für den Normaldeutschen. Manche auch nach Marokko und Peru (und auf die Galapagos-Inseln, wirft der grosse Strolch ein), und eine Familie war letzten Sommer in Sydney, Singapur und Tokio. Und eines haben alle diese Leute gemeinsam: sie sorgen sich, ob diese schönen Reisen ihre Kinder nicht zu sehr verwöhnen, zu schrecklichen Snobs machen, die sich an nichts mehr freuen können, und ihnen für den Rest ihres Lebens die Ziele rauben - im geographischen ganz wie im übertragenen Sinn.
Und das macht sie dann wieder sympathisch, irgendwie.
Lilli legt los - 31. Mai, 19:30
Hinter Lilli spricht ein Mann wütend in ein Handy: "...und voller Fehler noch dazu, wenn sie kein anständiges Französisch schreiben kann, soll sie dahin zurückgehen, wo sie hergekommen ist..." Angst durchzuckt Lilli eine Sekunde lang in Zickzackform, und sie schaut sich den Mann tatsächlich näher an, ob es sich wohl um einen Kollegen handelt, der über sie spricht. Jetzt lebt Lilli seit 18 Jahren in Kanada, aber den Einwandererkomplex hat sie immer noch.
Lilli legt los - 13. Mai, 18:43
Heute ging Lilli nach dem Mittagessen eine Weile in Montreals Altstadt spazieren. Die Sonne hatte sich herausgeputzt und ein helles, makelloses Kleid angezogen, das locker 20 Grad vorgaukelte, obwohl es dem Thermometer zufolge höchstens 16-einhalb waren. Männer trugen Anzüge, Frauen Röcke und Blazer, Lieferanten blaue Antons. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite beobachtete Lilli eine Frau, die mit cirka 10 Hunden unterschiedlichster Grösse und Rasse unterwegs war. Auf Lillis Höhe blieb sie stehen, um einen Hundehaufen aufzuklauben und diesen elegant in einer dafür eigens mitgebrachten Plastiktüte verschwinden zu lassen. Brav setzten sich die Hunde solange auf die Hinterpfoten, nur ein paar ganz Neugierige stiegen über die spinnennetzartig verknoteten Leinen, um ihr Tun aus der Nähe zu betrachen. Danach hatte die Dogwalkerin einiges an Überzeugungsarbeit zu leisten, bevor alle Hunde entwirrt waren, alle Pfoten über Leinen hinweg oder unter Leinen hindurchgeschoben worden waren und der Hundeknäuel sich wieder in Bewegung setzen konnte.
Lilli hatte dem Spektakel zugesehen, ohne sich vom Fleck zu rühren. Warum das ein unfehlbarer Beweis für Frühling ist? Nun, im Winter bleibt in Montreal niemand stehen, aus Angst, an Ort und Stelle festzufrieren.
Lilli legt los - 10. Mai, 18:29
Obwohl es im Moment regnet und kein bisschen nach Sommer aussieht, räumt Lilli die Kleiderschubladen der Strolche aus: die Sachen, die dem grossen Strolch zu klein sind (fast alles) kommt zum kleinen Strolch, dessen zu kleine Sachen auf zwei Stapel kommen. Ein Stapel mit den ausgefransten, zerrissenen Klamotten für die Stoffsammlung, ein anderer mit den noch guten Sachen zum Verschenken. "Warum nicht Saïd", sagt sich Lilli und zögert gleich darauf, da es bestimmt peinlich ist, dem Putzmann verwaschene T-Shirts für seinen Sohn anzutragen. Sie will nicht überheblich erscheinen, sie will auch nicht, dass er sich bei ihr unterwürfig bedankt und sich gleichzeitig darüber ärgert, in einer Position zu sein, wo er Krümel vom Tisch der reichen Frau annehmen muss. Dann doch lieber die anonyme Kleiderklappe an der Kirche? Da sieht wenigstens niemand, was man alles hergibt... Komisch, wo es Lilli doch hauptsächlich darum geht, dass noch funktionsfähige Dinge weiterverwendet werden, um die Umwelt zu schonen, so wie sie auch den Küchenabfall kompostiert. Sie will dafür keinerlei Dankbarkeit, lediglich ein gutes Gewissen für sich selbst. Wenn man aber Sachen verschenkt, schafft man automatisch Kategorien: der Schenker und der Beschenkte - ein Kastensystem wie in Indien.
Nachdem sie das alles eine Zeitlang wohl bedacht und in ihrem Herzen hin und her bewegt hat, nimmt Lilli den Stapel mit den guten Sachen, steckt ihn in eine Plastiktüte und hält sie Saïd hin. Der lächelt kurz, bedankt sich, als hätte Lilli ihm ein Stück Schokolade angeboten, und legt die Tüte zu seiner Jacke dazu, ohne gross hineinzuschauen. Seine Welt und seine Würde wurden durch die milde Gabe nicht erschüttert, und Lilli geht erleichtert zurück zu ihrem Computer, während Saïd weiter den Fernseher abstaubt.
Lilli legt los - 4. Mai, 10:49
Der kleine Strolch glaubt nicht, was er sieht: seine Mutter frühstückt im Stehen vor dem Fernseher, während dort eine hübsche Brünette mit einem roten Zinnsoldaten durch die Westminster Abbey gleitet. "Die Bäume! Und das Kleid! Und Harry!", gibt Lilli zwischen zwei Bissen Marmeladebrot von sich, ohne sich speziell an jemanden zu wenden, als hätte sie vor lauter Rührseligkeit vergessen, wie man ganze Sätze bildet. "Wer heiratet denn da?", will der kleine Strolch wissen, und ob die Hochzeit in echt stattfindet oder nur im Film. "Bei der Prinzessin Diana damals war das alles viel prachtvoller", erinnert sich Lilli kopfschüttelnd. "Wer ist Prinzessin Diana?", fragt der kleine Strolch, und da erst scheint Lilli ihn wahrzunehmen. Jemand, der Prinzessin Diana nicht kennt, muss wirklich sehr jung sein, denkt Lilli sich. Oder alle anderen echt alt.
Lilli legt los - 29. Apr, 23:18