Mitmenschen
Eine Mitarbeiterin in Lillis Büro ist schwanger, und dies schon seit Monaten. In der Mittagspause kommt es deshalb vor, dass sich die Frau länger und genüsslich über diverse Schwangerschafts- und Babythemen auslässt. Lillis Kollegin gesteht Lilli daraufhin, dass es für sie nichts Nervenderes gibt als das ewige Schwangerschaftsgequassele - für sie der Inbegriff des "Auf-den-eigenen-Bauchnabel-fixiert-Seins". Lilli plädiert diplomatisch für Nachsicht, wenn sie auch verstehen kann, was die Kollegin meint. Und denkt sich: "Das sagst du nur, weil du selber keine Kinder hast". Komisch, wie man die Leute einteilt: erst in solche, die aufs Gymnasium gehen und die, die es nicht geschafft haben. Dann in solche, die einen Freund haben, und die, die keinen abkriegen. Jetzt die Kinder. Später dann vielleicht solche, die ein Gebiss haben, und die, die noch alles selber essen können?
Lilli legt los - 28. Apr, 18:54
Saïd ist Immigrant. Lilli auch.
Saïd lebt schon eine ganze Weile in Kanada. Lilli auch.
Saïd spricht fliessend französisch. Lilli auch.
Saïd ist 39 Jahre alt. Lilli.... nun ja, kaum wesentlich älter.
Saïd hat Kinder. Lilli auch.
Saïd hat den Winter satt, vor allem im April. Lilli auch.
Saïd hat ein abgeschlossenes Studium. Lilli auch.
Saïd hat viel Papierkram auf sich genommen, um sein Diplom anerkennen zu lassen. Lilli auch.
Saïd kommt aus Marokko. Lilli - nicht.
Saïd ist Putzmann. Lilli ist beschämt.
Lilli legt los - 19. Apr, 20:30
Wenn ein Paar, das nach aussen so normal und haltbar aussah, auseinanderbricht, schlägt die Neuigkeit wie eine Bombe ein. Wie, die zwei trennen sich? Und die Kinder? Die erste Frage gilt immer den Kindern, denn keine Trennung kann so ablaufen, dass die Kinder keinen Knacks davontragen. Und das Haus? Und die Projekte, die sie letztes Jahr noch geschmiedet haben, die Reise, der Umbau, die Fortbildung? Die Therapie für den Sohn mit dem Aufmerksamkeitsdefizit, die aus der eigenen Tasche hätte bezahlt werden müssen? Alles kaputt, von der Tafel weggewischt, in Scherben auf dem Küchenboden. "Wir sagen es den Kindern erst im Juni, wenn die Schule aus ist, damit ihr Zeugnis nicht auch noch drunter leidet", sagt Lillis Freundin und sieht verzweifelt in die Ferne. Die letzten zehn Jahre war sie weg vom Arbeitsmarkt, um sich um die drei Kinder zu kümmern. Jetzt hat sie panisch eine Stelle angenommen, die sie weder reizt noch gut bezahlt ist - wahrscheinlich nur, um nicht völlig von dem Bald-Ex-Mann abhängig zu sein, der sich ein gemeinsames Leben mit ihr nun nicht mehr vorstellen will. Lilli sucht nach tröstenden Worten, findet aber keine. Auch die Worte liegen unnütz auf dem Küchenboden mit all den anderen Sachen.
Lilli legt los - 14. Mär, 13:43
Lilli hinkt, so scheint es, dem Büchermarkt auf geradezu hoffnungslose Weise hinterher. Mal liest sie hier was, dann da, wie ein Schaf auf der Weide, das von Grasbüschel zu Grasbüschel tappst, ohne sich entscheiden zu können, jetzt hier mal aber einen ganzen Streifen lang konsequent abzufressen. Letzten Herbst hat ihr zum Beispiel eine kanadische Freundin ein tolles deutsches Buch empfohlen, "Die Bücherdiebin". An Weihnachten hatte Lilli aber anderes im Kopf, als in Deutschland Bücher zu kaufen, und ärgerte sich nach ihrer Rückkehr sehr darüber, die Gelegenheit verpasst zu haben, mal wieder an die deutsche Bücherszene Anschluss zu finden. Bis sie merkt, dass das Buch erstens schon 2005 veröffentlicht wurde und zweitens gar kein deutsches Buch ist, sondern aus der Feder eines australischen Autors stammt und deshalb sogar in der städtischen Bücherei im Original zu haben ist. Jetzt liest sie also "The Book Thief" und findet es seltsam, dass ein australischer Autor über Deutschland schreibt. Wie kommt der dazu, selbst wenn er eine deutsche Mutter hat, was masst der sich an? Gleichzeitig fällt ihr ihre Schwester, die Musikkennerin, ein, die es bei ihrem ersten Besuch in Kanada unschicklich fand, einen Musiker auf der Strasse Bach spielen zu hören. "Aber doch nicht hier", empörte die grosse Schwester sich, als ob Bach nur innerhalb der Grenzen Europas erlaubt sei (oder schlimmer, als ob nur Europäer Bach spielen und verstehen könnten!). Lilli wiederum findet, dass die Montrealer aufgrund ihrer europäischen Abstammung sehr wohl das nötige Gengepäck mit auf den Weg bekommen haben. Mehr jedenfalls als die Asiaten, die durch ihre Musikbegabung und -begeisterung auffallen, aber selbst einer Kultur entspringen, die Musik hervorgebracht hat, die in Lillis Ohren wie Katzengejammer klingt... Lilli schüttelt den Kopf über derartige kulturell unordentliche Gedanken, ohne ihre Befremdung über Markus Zusak und seine Bücherdiebin abschütteln zu können. Die Frage, die sie sich seit Beginn des Buches und der darin erzählten Lebensgeschichte von Liesel Meminger stellt, hängt immer noch im Raum: Darf der das?
Lilli legt los - 13. Feb, 18:14
Urlaubserinnerung an die Schweiz (schliesslich haben Lilli, Monsieur und die Strolche kürzlich beim Umsteigen in Zürich ganze 90 Minuten dort verbracht): wenn man mit der superleisen Bahn von einem Terminal zum nächsten fährt, muhen dort die Kühe, ein Alpenhorn ertönt und durch das Fenster winken einem stramme Mädels und Burschen zu. Klischees vielleicht, aber nach einem langen Nachtflug ist das Gehirn dankbar dafür, mit einfachsten Informationshäppchen gefüttert zu werden. Beim Aussteigen dann der dreisprachige Abschiedsgruss aus dem Lautsprecher: "Have a nice day. Au revoir. Auf Wiederluge." Man lächelt und spricht das Wort nach, von dem schon gehört hat und trotzdem erstaunt ist, dass es tatsächlich und an so offizieller, prominenter Stelle benutzt wird. Dann fährt man mit der Hand leicht über die Jackentasche, um zu fühlen, ob dort noch das Schocki steckt, das uns der Steward fast schon verschwörerisch beim Aussteigen aus dem Flugzeug mitgegeben hat.
Lilli legt los - 21. Jan, 21:04
Der viele Schnee hat Lillis Tante in Süddeutschland schon schwer zu schaffen gemacht. Schliesslich hat sie Dachfenster im Klo!
Lilli (verständnislos): Und?
Tante: Da liegt jetzt ganz viel Schnee drauf!
Lilli: Und?
Tante: Das kann man gar nicht mehr aufmachen!
Lilli: Und?
Tante (druckst herum): Naja....
Lilli ratet: Dir ist es jetzt zu dunkel im Klo.
Tante: Nein...
Lilli: Du hast Angst, dass das Fenster eingedrückt werden könnte.
Tante: NEINN...
Lilli: ???
Tante (explodiert): Ich kann da jetzt gar nicht mehr lüften!
Drei Tage lang lief sie in ihrer Wohnung herum wie ein Huhn, das nicht weiss, wo es sein Ei legen soll. Dann kam sie zum Glück Lillis Eltern besuchen, die im ersten Stock wohnen.
Lilli legt los - 13. Jan, 08:57
Lilli hat über
Frau Chamäleon eine neuen witzigen Blog entdeckt.
Grete heisst die Verfasserin, und mehr scheint sie nicht über sich preisgeben zu wollen. Schade, denn wenn Lilli auf Worte stösst, die zu ihr sprechen, wüsste sie schon gern, wer und wie alt und mit was für einem Gesicht? Aber das Internet lässt diese grosse Anonymität zu, und vielleicht liegt es gerade an ihr, dass es so viele gute Blogs gibt. Denn hinter einem "nom de plume" versteckt lässt es sich hemmungsloser schreiben und schärfer kommentieren. Und was hätte Lilli schon davon, ein Photo der Autorin zu sehen? Im Prinzip ist ein Blog so gut wie die Summe seiner Posts, da könnte Grete auch ein Regenwurm sein oder aber ein Vanillekipferl. Deshalb: lang lebe die Anonymität und der Zauber, der damit einhergeht, sich einen Autor zusammenzuphantasieren...
Lilli legt los - 14. Dez, 09:30
Der kleine Strolch sitzt beim Friseur auf dem Stuhl und sieht aus, als ob er Monique gleich erwürgen wollte. Dabei schneidet Monique ihm die Haare richtig gut, er hasst es nur, sich von ihr befingern lassen zu müssen. "Schön wird das, da kommen deine Ohren richtig zur Geltung", zieht Lilli ihn auf. Sie weiss, dass der kleine Strolch Sticheleien und Ironie vertragen kann, hat ihr doch die Lehrerin erst vor kurzem bescheinigt, dass sein Sinn für Humor weit über seinem Alter liege. "Wenn ich den kleinen Strolch in die Klasse kommen sehe, denke ich immer, yuppie, wenigstens einer wird über meine Witze lachen." Komisch, über die intellektuelle Einsamkeit von Grundschullehrern hatte sich Lilli bisher keine Gedanken gemacht. Sie scheint aber ein echtes Problem zu sein.
Lilli legt los - 11. Dez, 17:24
Lillis Mutter denkt, dass es dieses Jahr kein Weihnachten geben wird. Der Vater ist zwar aus dem Krankenhaus entlassen, muss aber in die ambulante Reha und ist deshalb für keinerlei Weihnachtsvorbereitungen, für die er normalerweise eingespannt wird, zur Hand. Wer wird den Gutsleteig rühren, wer den Baum aufstellen, wer den Hof ausfegen, damit alles fein sein wird, wenn Lilli mit Familie am 21. einfliegen wird? Lilli versucht, sie zu beschwichtigen, hat aber den Eindruck, über die Hörermuschel direkt in den Wind zu reden. Bei Lilli stellt sich das mulmige Gefühl ein, dass ihre Mutter am 24. Dezember nervlich so zerrüttet sein wird, dass sie sich nach dem ersten Glas Sekt unter den Baum legt und erst am 28. wieder gewillt ist, aufzuwachen...
Lilli legt los - 3. Dez, 12:28
Ein schöner Nebeneffekt der Teilzeitarbeit besteht darin, dass man an den Morgen, an denen man nicht ins Büro muss, so ordentliche Arbeiten erledigt wie grosse Töpfe vom Vortag spülen. Dabei kann man aus dem Fenster sehen und seine Gedanken ein wenig schlendern lassen (das Zeug muss sowieso einweichen, nicht wahr?), weil dort draussen gerade der schönste Herbst stattfindet, so mit morgendlichem Rauhreif, roten Blättern und blauem Himmel. Bei Herbst denkt Lilli unweigerlich an Laubfeuer: an das riesengrosse, das Monsieur und Lilli vor vielen Jahren bei ihrem Freund am See angezündet haben und das sehr eindrucksvoll ausser Kontrolle geriet. Und an das kleine, das Lillis Vater damals auf dem Acker in Deutschland unter völliger Ignorierung der Windverhältnisse entfacht hat und dessen halbverkohlte Blätter bei der entsetzten, kreischenden Nachbarin auf der Markise landeten. Wenn Lilli so an ihren Vater denkt, wird sie nostalgisch, als ob er schon nicht mehr am Leben wäre. Dabei ist er relativ gesund und munter und freut sich darauf, Lilli dieses Jahr an Weihnachten zu sehen
Aber es wird nicht der gleiche Vater sein und nicht die gleiche Lilli.
Lilli legt los - 4. Nov, 08:00