Mitmenschen
Wer in London U-Bahn fährt, wundert sich anfangs über die theatralisch-eindringliche Durchsage „Mind the gap!“, die kurz vor Einfahrt des Zuges über die Köpfe der wartenden Passagiere dröhnt. Damit sollen die Passagiere gewarnt werden, doch bitte beim Betreten des Zuges nicht in die Spalte zwischen Bahnsteig und U-Bahn zu fallen. Genau so einen Spalt (um nicht zu sagen Abgrund) hat Lilli jetzt auch zwischen Krankenhaus-Fernsehserien und der öden Wirklichkeit eines Wartezimmers für kleinere Eingriffe des städtischen Krankenhauses entdeckt. Wo bitte sind die schönen Krankenschwestern, die gütig oder auch raubeinig, aber immer heroisch wirkenden Ärzte, die sexy Assistenten, das ganze Adrenalin? Wo die netten Damen mit dem Kaffee und den Muffins? Wo die kalten Schönheiten der Direktion, die mit Akten unter dem Arm durch die Gänge stöckeln? Und die lieben Ärztinnen, die mitfühlend die Hand auf den Vorderarm legen und tröstende Worte finden, als warteten nicht noch 10 andere Patienten auf sie? In diesem Wartezimmer jedenfalls gab es nur müde wirkendes Personal in blässlichem Grün, müde Patienten, die allesamt längst einmal zum Friseur gehört hätten, und müde Ärzte, die die Patienten mit müder Stimme aufriefen, als stünde hier nicht eine Magenspiegelung, sondern die Reparatur eines Staubsaugers bevor. Der kalte Frühlingsregen, der an die nicht vorhandenen Fenster klatschte, und die Neonröhren an der Decke trugen das ihrige dazu bei. Insgesamt war das Erlebnis so nichtssagend wie ein Papiertaschentuch und so monoton wie eine U-Bahnfahrt von Holborn nach Cockfosters. Da sieht man mal wieder, dass man nicht alles glauben darf, was so im Fernsehen kommt.
Lilli legt los - 18. Mai, 18:44
Lilli steht im Bürofachhandel an der Kasse hinter einem glatzköpfigen jungen Mann, der sie recht nett anlächelt. Vor ihm stapeln sich drei Schachteln Kugelschreiber und 10 Rollen Duct Tape, dieses silberfarbene, stark haftende, praktisch unzerstörbare Industrieklebeband, mit dem in nordamerikanischen Haushalten vom Rohrbruch bis zum kaputten Kühlschrank so ziemlich alles zusammengehalten wird – in Filmen knebeln sie ihre Geißeln damit. Lilli kann einfach nicht widerstehen, außerdem hat sie erst vor kurzem in einem Psychopopartikel gelesen, dass nur der richtig glücklich wird im Leben, der offen auf andere Menschen zugehen kann. „Was machen Sie nur mit so viel Duct Tape?“, platzt es deshalb ungeniert aus ihr heraus. „Ich bin Erzieher in einem Kindergarten und binde die Kleinen damit auf dem Stuhl fest“, erklärt der Glatzkopf da spontan mit einem kleinen Lächeln in den zusammengekniffenen Augen, als ob er nur darauf gewartet hätte, dass ihn jemand fragt… Die richtige Antwort, die er dann nachschiebt (er hat einen Fischladen und etikettiert damit die Kisten, die ins Gefrierregal kommen, denn alle anderen Etiketten brechen in der Kälte ab), ist dann doch relativ langweilig. Die Begegnung endet ganz unspektakulär damit, dass der Fischmann zahlt, seine Rollen unter den Arm klemmt und den Laden verlässt. Nur sein Lächeln liegt noch auf dem Kassenband - Lilli schnappt es sich und klatscht es sich ins Gesicht, wo es wie durch Zauberei bis abends hängen bleibt.
Lilli legt los - 21. Apr, 09:28
Diese Freundin von Lilli hat übrigens multiple Sklerose. Schon seit langem, aber es ging ihr ganz lange gut. Seit 10 Tagen geht es ihr nun aber schlecht, so schlecht, dass sie nicht Autofahren kann und sich im Haus an ihrem Stock festhalten muss, um von der Küche ins Bad zu kommen. Seither hat Lilli beim morgendlichen Joggen ganz seltsame Geschmackshalluzinationen – manchmal schmeckt es ihr süß wie Honigkuchen, manchmal stößt es aber auch ganz sauer auf.
Lilli legt los - 17. Apr, 09:44
Die eine Schwägerin schenkt zu Ostern große kitschige Tierformen aus billiger Milchschokolade, die andere Schwägerin fast genauso große Dinger aus teurer dunkler Schokolade – man fragt sich, ob die Beiden wirklich im gleichen Haushalt groß geworden sind. Lilli, zielgerichtet wie immer, schenkt Schokoladeneier, da man die schön einfach in den Mund stecken kann, ohne vorher ein Tier kaputtschlagen zu müssen. Monsieur schenkt Lindthasen mit Glöckchen dran, die viel zu goldig sind, als dass man sie essen möchte (obwohl man sie essen möchte!) und outet sich dadurch als ein Mensch mit einem großen Liebes- und Zuwendungsbedürfnis. Die Schwiegermutter, die Entscheidungen scheut, schenkt eine gefüllte Pralinenmischung in der Hoffnung, dass Lilli schon irgendetwas davon schmecken wird. Und Lillis eigene Mutter schenkt Geld, da die Osterhasen aus Deutschland doch meistens in Stücke zerbrochen angekommen sind und Lilli lieber etwas anderes kaufen soll, was den Strolchen Freude macht. Jetzt, vier Tage nach Ostern, kann Lilli folgende Schlüsse ziehen: dunkle Tiere haben eine kürzere Lebensdauer als helle, Eier lösen sich, sobald man ihnen den Rücken zudreht, in Luft auf, und Pralinen schimmeln wohl eher, als dass einer auch nur die in Geschenkpapier eingewickelte Schachtel aufmachen wollte. Die Lindthasen? Sind inzwischen mit Namen versehen worden, dürfen mit fernsehen und schlagen mit dem Glöckchen Alarm, sobald eine Kinderhand versucht, sich ihnen zu nähern. Und das deutsche Ostergeld? Ist wohl gestern irgendwie in den Supermarkteinkauf reingerutscht, sorry. Aber Lilli nimmt sich vor, neue Badehosen für die Strolche zu kaufen und diese als „Ostergeschenk von Oma“ zu deklarieren. Dann ist aber bestimmt schon Mai und Ostern längst ganz und gar verg-essen.
Lilli legt los - 16. Apr, 10:23
Die
Frau, die am 25. Dezember in die psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde und seither ihre Tage mit Nichtstun verbringt, kann nicht wirklich sagen, dass es ihr besser geht. Sie werde schlecht behandelt und auf Schritt und Tritt verfolgt, sagt sie. Mit Pillen vollgestopft, mit denen die Ärzte auf das Geheiß der Regierung hin Experimente machen, gegen die sie sich nicht wehren kann. Dass sie dabei als Versuchskaninchen herhalten muss, weiß sie ganz genau, denn an ihrer Tür ist ein Metallschild mit einer Nummer drauf, ganz eindeutig. Wann und wie oft sie ihren Psychiater sieht, der sie fragt, wie es ihr geht, weiß sie dagegen nicht so recht – die Tage vergehen alle im gleichen Rhythmus, mit dem gleichen Stundenplan, dem gleichen Essen, den gleichen unanständigen Witzen der anderen Insassen vor dem immer gleichen Fernsehprogramm. Wie soll man da noch wissen, welches Datum wir haben? Das Essen ist schlecht, wobei sie meistens noch die zähesten Stücke Fleisch und das matschigste Gemüse bekomme, als hätte die Bedienung sich mit dem Küchenchef abgesprochen. Der Stundenplan bietet außer den Mahlzeiten keinerlei Abwechslung, es gibt weder Bücher noch Zeitungen, weder Bastelstunden noch Gymnastik, kein Verlassen der Abteilung, niemals frische Luft. Auch keine Arbeiten wie Küchendienst oder Ausfegen, aber dazu könnte sie sich auch gar nicht genügend konzentrieren, daran sind die Pillen schuld natürlich. Und was die anderen Patienten angeht – es sind fast lauter Männer, die da in Trainingsanzügen, mit ungepflegten Haaren und lüsternen Blicken im Gemeinschaftssaal um den Fernseher sitzen – vor denen hat sie Angst. Manchmal versucht sie trotzdem, ein Gespräch anzufangen, über Jesus zum Beispiel oder wichtige Wörter wie „Mitleid“ oder „Freundschaft“, aber sie spürt, dass ihr nicht wirklich zugehört wird. Dann bohrt die Frau ihren undurchdringlichen Blick in Lillis Augen und sagt erstaunt, als ob sie gerade an einem fremden Ort aufgewacht wäre: „Sie annullieren mich hier drin.“ Und gleich danach: „Ich hätte gern mal wieder eine Pizza.“
Als es Zeit ist, zu gehen, muss Lilli warten, bis sich die Krankenschwester in ihrem Glashaus vom Gespräch mit einer Kollegin losreißt und den Kopf zu ihr wendet. Dann drückt sie auf einen Knopf, der laut summend ankündigt, dass sich die Tür für einen Augenblick öffnen wird, um Lilli hinauszulassen. Alle anderen, da ist sich Lilli sicher, wiegen sich weiter im Schaukelstuhl und sehen ihr mehr glasig als sehnsüchtig hinterher.
Lilli legt los - 15. Apr, 09:40
Endlich hat Lilli ihren Artikel über die Schwiegereltern fertiggeschrieben. Aber ihre eigene Schwiegermutter kommt darin nicht vor - es sollte ja keine Horrorstory werden.
Lilli legt los - 9. Apr, 08:36
Es war einmal ein kleines chinesisches Mädchen, das von einer Familie in Montréal adoptiert wurde. Ein paar Jahre später adoptierten sie noch ein Mädchen aus China, und so lebten sie vierköpfig und glücklich in einem netten Stadtteil, zentral an einer Metrostation und doch kinderfreundlich mit einem Garten zum Spielen. Sie hatten eine exotische Katze und einen Ahornbaum, von dem sie jeden Frühling 10 Pfund Ahornsirup ernten konnten. Als das Mädchen 13 war, bekam sie ein blaues Fahrrad mit einer Klingel mit Bambi-Motiv, mit dem sie nur selten fuhr. Heute ist sie 16, hat karamellfarbene Strähnen in ihren langen blauschwarzen Haaren und züchtet Ratten, die sie im Internet über ihr eigenes Blog verkauft. Der Vater verabscheut die Ratten und besteht darauf, dass sie das Zimmer des Mädchens nicht verlassen dürfen. Die Mutter zuckt die Achseln und ist froh, dass das Mädchen die Ratten im Käfig hält und sie nicht auf sich herumspazieren lässt. Und Lilli in der ganzen Geschichte? Hat am Wochenende das blaue Fahrrad für den kleinen Strolch gekauft und eine halbe Stunde lang Einblick in eine private Welt bekommen, die ihren ganz eigenen Charme hatte. Danach stopfte Lilli das Fahrrad ins Auto und fuhr mit einem stolzen Strolch davon, der zu Hause als erstes forderte, die Bambiklingel abzumontieren.
Kleinanzeigen, liebe Leute. Vom Kauferlebnis her können normale Geschäfte da nicht mithalten.
Lilli legt los - 30. Mär, 10:03
Montreal ist beileibe keine zweisprachige Stadt, auch wenn es für Außenstehende so aussehen kann. Es gibt zwar schon viele zweisprachige Menschen hier, aber selten nur handelt es sich bei diesen zwei Sprachen um Englisch und Französisch. Viel öfter kommt es vor, dass Leute Griechisch und Englisch, Italienisch und Englisch oder Punjabi und Englisch können, während die, die Französisch sprechen, sich meist in allen anderen Sprachen schwertun. Es gibt offiziell zweisprachige Stadtteile, in denen alle Kommunikationsmittel auf Englisch und Französisch produziert werden und sogar die Straßennamen zweisprachig auf den Schildern stehen, aber auch dort sprechen die wenigsten Bewohner beide Sprachen fließend. Und drumherum gibt es hauptsächlich Leute, die entweder Englisch oder Französisch als Muttersprache beherrschen und die andere offizielle Sprache Kanadas in der Schule als Fremdsprache gelernt haben. Wer schon einmal in der Innenstadt westlich der Nord-Süd-Axe der Universität McGill versucht hat, ein Paar Turnschuhe zu erstehen, wird bestätigen können, dass dies auf Französisch fast ein Ding der Unmöglichkeit ist. Die Regierung der Provinz Québec, die wiederum einsprachig ist, will dies ändern, hat aber mit der kürzlichen Verteilung von Aufklebern, auf denen „In diesem Geschäft spricht man Französisch“ steht, keinen durchschlagenden Erfolg erzielt (wie auch?). Umso beeindruckter war Lilli neulich, als sie zum ersten Mal ins „Children“ musste (Montreals „englisches“ Kinderkrankenhaus, das es geschafft hat, seinen verkürzten Namen in den französischen Sprachgebrauch einzuschmuggeln – „Je m’en vais au Children avec mon garçon.“). Dort war nicht nur der Service um Lichtjahre besser als im „französischen“ Krankenhaus in Lillis Nähe (eine Voruntersuchung, die die Patienten schon mal nach Dringlichkeitsgrad einstuft, BEVOR sie überhaupt zur Krankenschwester kommen, die dann festlegt, in welcher Reihenfolge sie vom Arzt untersucht werden! Ein gemütliches Wartezimmer mit Waschbecken, Waschlappen, feuchten Tüchern, Fernseher – „Nemo“ auf englisch mit französischen Untertiteln – und Stapeln von Bilderbüchern! Zwei getrennte Wartebereiche und Ärzteteams für Verletzte und Kranke! Eine Spieltherapeutin, die die Patienten bei unangenehmen Untersuchungen ablenkt, damit weniger Beruhigungs/Narkosemittel gespritzt werden müssen! Lustige Bilder an der Wand neben der OP-Liege sowie an der Decke, damit der Patient beim Aufgeschnittenwerden was zum Anschauen hat!), also nicht nur der Service war besser, sondern er war auch von Kopf bis Fuß fließend bi. Tatsächlich ALLE Personen, mit denen Lilli in Berührung kam, konnten mühelos vom Englischen ins Französische wechseln und Fieber, Stuhl, Erbrechen und all die anderen netten Dinge, die im Moment durch Montreals Frühlingsluft geistern, wahlweise in der Sprache Shakespeares oder der von Molière besprechen. Als ob das Children die Stadt nach den wenigen wahrhaftig zweisprachigen Krankenschwestern, Pflegern und Ärzten abgesucht und diese mit einem Zauberbann beworfen hätte, damit sie lebenslang in seinen alten Backsteinmauern Dienst tun. Chapeau!
Lilli legt los - 23. Mär, 09:31
Lilli soll einen konstruktiven Artikel zum Thema Schwiegereltern schreiben. So mit Lösungsansätzen für Missverständnisse, Einmischungen, Eifersüchteleien, unerwünschte Ratschläge, verkalkte veraltete Ansichten, Überschreitungen von Zuständigkeitsbereichen und unangemessenes Verhalten allgemein. Gestatten Sie: ha, ha, ha, ha, hi, ho, ho.
Lilli legt los - 20. Mär, 12:44
Selten nur kommt Deutschland in den kanadischen Nachrichten vor. Gestern abend aber wurde Lillis Geburtsland schon im Aufmacher genannt, und etwas später fiel der Ortsname Winnenden, den Lilli gut kennt. Ihr Hautarzt war dort, früher mal, und der Optiker von Lillis Mutter, außerdem ist Winnenden so ein hübsches Städtchen, in dem man gut bummeln kann, weil alles so nah beieinander liegt. Winnenden hat auch eine psychiatrische Anstalt, weshalb Lillis großer Bruder, der Önologe, sie gern mit dem Abzählreim „Lilli geht nach Winnenden, in die Stadt der Spinnenden…“ hänselte. Gestern abend zischten also plötzlich Bilder aus Winnenden in Lillis Wohnzimmer: Realschule, Polizei, verängstigte Jugendliche, ein mit Bändern abgesperrter Autohändler, noch mehr Polizei. Und Angela Merkel, die sich in grauer langer Jacke an die Nation wendet, wovon leider nichts zu verstehen war, weil der kanadische Reporter seinen Bericht darübersprach. Nur kurz vor Ende des Berichts wurde der Originalton aufgedreht, um ein letztes deutsches Wort hören zu lassen, „fassungslos“. Lilli erinnert sich plötzlich daran, wie sie das erste Mal von einer Schießerei in einer Schule gehört hatte. Da hatte sie noch in Deutschland gewohnt, es war 1989 gewesen und hatte sich – seltsamerweise – in Montreal ereignet, als ein Mann in einer Fachhochschule auftauchte, die Tür zu einem Hörsaal aufriss, die Jungs aus der Vorlesung schickte und die Mädchen der Reihe nach erschoss. Auch damals hatte es keine Erklärung dafür gegeben, und Versuche, den Täter zu verstehen, indem man seine unglückliche Kindheit durchstöberte, blieben unbefriedigend. Jetzt gibt es einen Film darüber, „Polytechnique“, der zwar die Tat nachstellt, aber nicht den Anspruch erhebt, irgendetwas zu erklären. Wie könnte man auch? So oft es sich ereignet, bleibt es doch unverständlich, und man sitzt vor dem Fernseher und schüttelt den Kopf. Fassungslos.
Lilli legt los - 12. Mär, 10:36