Mitmenschen

Montag, 26. Oktober 2009

Lilli ist geschockt

Die Frau, die seit letztem Weihnachten in der geschlossenen Abteilung des psychiatrischen Krankenhauses interniert ist und dort erfolglos gegen Schizophrenie behandelt wird, soll nun Elektroschocks bekommen. Dass es das noch gibt! Oh, keine Panik, beruhigen die Ärzte, denn heutzutage wird das unter Vollnarkose gemacht und hat viel weniger Nebenwirkungen als damals, höchstens ein wenig Kopf- und Zahnschmerzen (klar, weil die Zähne auch unter Vollnarkose aufeinanderschlagen), und die Ergebnisse sind wirklich erstaunlich… Ach ja, auch Gedächtnisverlust kann auftreten, aber darunter leidet die Patientin ohnehin schon, das kann dann schwerlich auf die Elektroschocks zurückgeführt werden, nicht wahr? Nun haben Elektroschocks nach Lillis laienhafter Ansicht genauso positive Auswirkungen auf das menschliche Gehirn wie unter Zwang verabreichte eiskalte Bäder oder, sagen wir mal, eine öffentliche Auspeitschung. Deshalb ist Lilli froh, dass sie nicht zu den Personen gehört, die dieser neuen Therapie zustimmen müssen. Das muss die Patientin selbst übrigens auch nicht, das Recht hat sie schon lange nicht mehr…

Mittwoch, 21. Oktober 2009

Lilli und die Kuh

Lilli hat ein Regenschirm-Handicap: sie verliert sie ständig, und diejenigen, die sie nicht verliert, werden von den Strolchen zum Hockeyspielen missbraucht und enden mit vielfachen Knochenbrüchen im Müll. Ihr Haushalt verfügt deshalb im Moment nur noch über einen Riesenschirm, der gut für eine Kleinfamilie mit Bollerwagen ausreicht, und ein Kinderschirmchen in Form einer Kuh. Am ersten Regentag dieses Herbstes zog Lilli mit dem Riesenschirm los und konnte froh sein, niemandem am Bahnsteig damit ein Auge ausgestochen zu haben. Noch dazu war das Ding schwer und zusätzlich zur Hand- und Umhängetasche extrem lästig. Am zweiten Regentag beschloss Lilli deshalb, ihr Glück mit der Kuh zu probieren. Und während sie so inmitten der Montrealer City spazierte, ein weißes Schirmchen mit aufgedrucktem Kuhmaul und Kuhaugen sowie obendrauf abstehenden Hörnern und Ohren über sich haltend, fiel ihr etwas Erstaunliches auf: sie fiel überhaupt nicht auf damit. Sie erntete kein Lächeln, keinen belustigten Blick, kein Hohnlachen – einfach gar nichts. Auch das ist Montreal: man kann mit blauen Haaren, Totenköpfen auf dem T-Shirt oder aber Wiederkäuern über dem Kopf durch die Menge gleiten, ohne jemanden damit vor den Kopf zu stoßen. Die Leute sind Sachen gewöhnt und lassen durchgehen, was sie selbst in ihrer Privatsphäre nicht beeinträchtigt. Und ihnen kein Auge aussticht...

Montag, 19. Oktober 2009

Wo die wilden Monster sind

So heißt das Buch bestimmt nicht auf Deutsch, aber so hat Lilli es früher immer den Strolchen übersetzt, das Monsterbuch von Maurice Sendak. Und zwar so oft, dass der Einband zerriss und mehrere mit gestrichelten Zeichnungen gefüllte Seiten herausfielen. Das Buch ging den Gang in die Recyclingtonne, aber die wilden Monster haben ihren Platz im Herzen der Strolche (oder zumindest in ihrem Gedächtnis) behalten. Umso größer war die Freude des kleinen Strolches, als er am Sonntag im Rahmen eines Kindergeburtstages ins Kino durfte, um den niegelnagelneuen Film zum Buch zu sehen. Noch dazu mit dem Sohn der Nachbarin, die Lilli nicht leiden kann. Nun hat ja Lilli nichts gegen Kindergeburtstage bei Nachbarinnen, die sie nicht leiden kann, schließlich ist es ja nicht sie, die hingehen muss, sondern der Strolch. Sie findet aber Kinobesuche mit einer Gruppe Achtjähriger extrem seltsam und würde selbst nie auf die Idee kommen, sich so etwas anzutun. Das Seltsamste aber war der Bericht, den der Strolch vom Drum und Dran des Kinobesuchs erstattete:

Lilli: Und, habt Ihr auch was Süßes bekommen? (Für Lilli ist Kinobesuch ein Synonym für süße Kalorienaufnahme, vorzugsweise in Form von Gummibären)
Strolch: Nein, nur ein Zitronenslush. Das hab ich mir aber selbst gekauft. (Er hatte von Lilli vorsichtshalber 5 Dollar Taschengeld mitbekommen)
Lilli: Und, wie war das?
Strolch: Teuer! Es hat 3 Dollar gekostet.
Lilli: Ja, hat Simons Mutter Euch denn nichts gekauft?
Strolch: Doch, eine große Portion Popcorn für uns alle (Grippe, irgendwer?). Sie hatte aber nicht genügend Geld dabei, da hab ich Ihr meine restlichen 2 Dollar gegeben.

So kann man also auch Kindergeburtstag feiern. Man karrt die Kinder ins Kino, damit das Haus nicht auf den Kopf gestellt wird, und sammelt dann noch Geld ein, um sie zu bewirten. Komischerweise ist Lilli nicht erstaunt.

Freitag, 16. Oktober 2009

Echt Montréal

Die Bahnhofsuhr zeigt 8 Uhr 35, der Zug fährt ein, die Türen gehen zischend auf. Ein Kontrolleur hievt seinen massigen Bauch die Treppen hinunter bis auf den Bahnsteig, auf dem ausser Lilli noch dreissig andere in dunkles Tuch gehüllte Leute darauf warten, einsteigen zu können. "Guten Morgen allerseits", wirft der korpulente Kontrolleur gut gelaunt in die Runde, während sich die Leute an ihm vorbei in den Wagen schieben. "Es ist Freitag morgen, das Wochenende steht vor der Tür, der Schnee auch, aber leider haben unsere Glorreichen gestern abend gegen Colorado ganz miserabel verloren!" Wer das hört, braucht nicht erst auf das Bahnhofsschild zu sehen, um zu wissen, dass er sich in Montréal befindet...

Samstag, 19. September 2009

Der wahre Charme von Montréal

Montréal ist eher hässlich anzusehen, vor allem für europäische Touristen, die hier nach der „historischen Innenstadt“ suchen oder der „Einkaufsmeile“ oder gar nach nennenswerten Kunstwerken, Museen, architektonischen Schönheiten oder einfach nur romantischen Sträßchen, in denen man gut bummeln kann. Nicht, dass es all dies nicht gäbe: es hält sich nur eher versteckt wie eine scheue Katze, die erst mal im Hinterhalt wartet, bevor sie sich von x-beliebigen Fremden mit einem Stadtplan in der Hand streicheln lassen würde. Manche Leute behaupten, dass man Montreal nicht zeigen kann, man kann es nur erleben, und haben damit nicht unrecht. Vielleicht muss man einfach ganz ohne touristische Erwartungen an einem Sonntag Nachmittag im Park am Fuße des Mont Royals sitzen und den Tamtams zuhören, die dort fiebrig-rhythmisch spielen, während der kleine Strolch sich bei den fliegenden Händlern ein Lederarmband mit einem eingeritzten Drachen drauf kauft. Oder vor Weihnachten im alten Hafenbecken Schlittschuh laufen, während ein Feuerwerk in die Luft steigt und Leute an einer beheizten Bar Cocktails trinken. Oder man muss einfach wie Lilli und Monsieur diesen Sommer Hand in Hand durch die Innenstadt spazieren, nachdem sie das neue Westin-Hotel ausspioniert hatten (mit Monitoren in der Eingangshalle, die die Ankunfts- und Abflugzeiten des Flughafens zeigen, sehr international), unter einem Baugerüst durchlaufen und dabei lachen, weil eine Bewegung von oben sie fürchten lässt, dass jetzt gleich etwas auf sie herunterfällt und – nachdem sie gleichzeitig und immer noch Hand in Hand auf die Seite gesprungen sind – von einem Passanten ein „Vous faites un beau couple“ („Sie sind ein schönes Paar“) zugeworfen bekommen. Ping, einfach so, wird ein kleines Kompliment gestreut wie ein Blütenblatt bei einer Hochzeit, ein Konfetti beim Kindergeburtstag. Das, liebe Leute, macht den wahren Charme von Montréal aus, nicht das neue Messezentrum, die neue Bibliothek oder der Brunnen von Riopelle, der zu jeder vollen Stunde Feuer spuckt. Es ist diese Großzügigkeit der Leute, die für den Bruchteil einer Sekunde unseren Weg kreuzen, die Augen wohlwollend statt mürrisch auf uns ruhen lassen, uns zuzwinkern und dann wieder in der Anonymität der Großstadt verschwinden. Das, und vielleicht die frischen Bagel der Rue Saint-Viateur, in die Lilli jetzt nur noch kommt, wenn sie zum Zahnarzt muss.

Donnerstag, 17. September 2009

Sieh an, sieh an

Lillis Ferienlektüre katapultierte sie nach Stockholm, wo sie zwischen unzähligen Tassen Kaffee und belegten Broten (essen die auch mal warm dort?) über einen Ausdruck stolperte, der ihr zwar durchaus bekannt war, von dem sie aber nicht geglaubt hätte, dass er offiziell existiert. So packt eine der Hauptpersonen einen kleinen Koffer für eine Übernachtung, der doch tatsächlich in der französischen Übersetzung „baise-en-ville“ genannt wurde. „BUKO“, hatte Lillis Schwester, die Religionslehrerin, immer dazu gesagt, als sie in Tübingen im Studentenwohnheim wohnte und mit solchen Sachen konfrontiert wurde, während Lilli noch in der Provinz zur Schule ging und sie aus der Ferne für ihre Weltläufigkeit bewunderte. Lilli muss grinsen. Sprache ist doch eine tolle Spielwiese…

Donnerstag, 10. September 2009

Sommerliche Klänge

Das folgenreichste Geräusch dieses Sommers ertönte an einem Freitagabend kurz nach 23 Uhr. „Kabumm“, machte es, als Monsieur vom Fahrrad fiel, „krack“, als er sich die linke Hand brach und „krzkrzzzz“, als seine rechte Gesichtshälfte beim schleifenden Kontakt mit dem Asphalt großflächig aufgeschürft wurde. Anschließend verbrachte er die Nacht im Krankenhaus, wo er an verschiedenen Stellen durchleuchtet, verbunden und vergipst wurde, und die nächsten vier Wochen damit, den Unfallhergang mindestens fünfmal am Tag in immer leuchtenderen Farben zu schildern. Dies machte er so genüsslich, dass er Lilli letztendlich gehörig damit auf die Nerven ging. „Stell dir vor, er hätte die Kinder kriegen müssen“, erwiderte eine Freundin lakonisch auf Lillis Beschwerde, dass Monsieur sich mit diesem idiotischen Sturz ins Rampenlicht drängelte. Lilli stellte es sich kurz vor und nickte beeindruckt. Mit dem Bericht über die Entbindung des kleinen Strolches wäre er jetzt noch nicht fertig…

Donnerstag, 11. Juni 2009

Bisschen viel vielleicht

Beim Kantinengeplapper erfährt man ja so allerhand. Da erzählt z.B. eine Sekretärin, dass sie im April von England nach Montréal umgezogen ist. Die 3-jährige Tochter blieb vor dem Umzug erst einmal sechs Wochen allein bei den Großeltern in England, dann sechs Wochen bei den ziemlich unbekannten Großeltern in Montréal, dann durfte sie wieder mit Mama und Papa zusammenziehen, die inzwischen Wohnung/Auto/Arbeit gefunden hatten. Und in den neuen Kindergarten gehen – ein Konzept, das sie aus England nicht kannte, da sie dort immer mit einem Elternteil zu Hause war. Noch dazu in einen französischsprachigen Kindergarten, obwohl sie fast nur Englisch kann. Und jetzt will sie sich einfach nicht eingewöhnen dort, obwohl der Kindergarten hell, freundlich und alles ist. Will keinen Mittagschlaf machen, obwohl sie in England immer wunderbar geschlafen hat. Und mit dem Essen ist sie neuerdings auch schwierig. Komisch, oder? Die Sekretärin seufzt. Was man mit Kindern aber auch alles durchmacht…

Mittwoch, 10. Juni 2009

"Sveeg und Sling"

Lilli hört nur selten Kommentare, die auf ihre Nationalität abzielen, und zum Glück keinerlei Anspielungen auf die deutsche Vergangenheit in der Weltgeschichte. Eine nette Frau, die auf dem Schulweg wohnt und mit Lilli manchmal über den Charme Europas spricht, hielt sie vor kurzem aber extra an, um ihr von ihrer neuesten Entdeckung zu erzählen. Da hat sie doch zwei deutsche Autoren entdeckt, die so wunderbar empfindsam und treffend schreiben, mit großer Menschenkenntnis und Verständnis für die Irrungen und Wirrungen der Seele. Lilli musste die Frau leider bitten, die Namen zu wiederholen, da „Zweig“ und „Schlink“ für Französischsprachige doch einen erheblichen Schwierigkeitsgrad darstellen, dann aber hat sie sich mächtig gefreut. Als ob sie sich selbst von dem Kompliment ein Scheibchen abschneiden könnte…

Mit Milch, bitte!

Zurzeit muss Lilli wieder Sekretärin für Monsieur spielen – wobei das „Spielen“ eher zu kurz kommt, da Monsieur tatsächlich Hilfe braucht und sie mit richtiger harter Arbeit eindeckt. Ein paar Augenzwinkermomente gibt es aber doch. Zum Beispiel letzten Freitag morgen, als sich Monsieur in seinen Schreibtischstuhl fallen liess und zu Lilli hinausrief: „Ein Kaffee wäre jetzt nicht schlecht!“ Lillis Antwort: „Ja, gern, ich nehm ihn nur mit Milch wie immer“. Meistens fällt Lilli die Schlagfertigkeit ja erst hinterher ein, aber an diesem Tag war sie mal wirklich prompt zur Stelle. Die Sekretärin, die gleich neben Lilli sitzt, prustete nach einer Schrecksekunde gleich einen ganzen Stapel Belege über den Schreibtisch vor Lachen...

Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

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