Als Lilli fünf war, ist ihr das schon einmal passiert

Lillis Nachbarin läuft ihr in den Garten hinterher und verlangt, dass Lilli ihr zuhört, da sie ein besonderes Anliegen vorzubringen hat. Lilli schleppt einen Sack Kompost aus Fischabfall und ist mindestens so schlecht gelaunt wie die Schalentiere, die zur Herstellung des Komposts verwendet wurden. Trotzdem bringt sie ein Lächeln zustande und hört sich an, was sich als ein neues an den Haaren herbeigezogenes Problem der Nachbarin entpuppt: Lilli grüßt die Nachbarin nicht, oder nicht herzlich genug, was doch nicht anginge, schließlich wohne man doch so nah beieinander. Während Lilli diese Anschuldigung auf sich wirken lässt, tun sich zwei mögliche Szenarien vor ihrem innerem Auge auf:

1. Lilli tut erstaunt, entschuldigt sich für all die Male, wo sie die Nachbarin übersehen haben sollte, und versichert ihr, dass es bestimmt nur daran liegt, dass Lilli immer mal wieder völlig in Gedanken durch die Welt spaziert. Danach wären beide Beteiligten zufrieden gewesen, denn die Nachbarin hätte Lilli zu verstehen gegeben, dass sie sie unmöglich findet, während Lilli sich in ihrer Einschätzung bestätigt gefühlt hätte, dass die gute Frau zu viel über andere nachdenkt, weil sie wohl sonst nichts zu tun hat.

2. Lilli sagt die Wahrheit, nämlich dass sie die Nachbarin keinesfalls durch ein zu herzliches Grüßen dazu auffordern will, sie in ein Schwätzchen wie dieses zu verwickeln. Nicht, weil Lilli etwa ein generell menschenverachtendes Persönchen wäre, sondern lediglich, weil sie nun mal genau diese Nachbarin nicht sonderlich leiden kann, aus mehreren, vielfältigen, persönlichen und ganz und gar subjektiven Gründen natürlich. Danach wäre die Nachbarin beleidigt und Lilli geknickt gewesen, da es ihr keinen großen Spaß macht, anderen Leuten den Tag zu verderben.

Noch bevor sich Lilli für das eine oder andere Szenario entscheiden kann, legt die Nachbarin ganz unverblümt nach: „Vielleicht liegt es ja daran, dass du Deutsche bist, dass du so unnahbar bist.“

! ! ! Und das von jemandem mit Hochschulabschluss ! ! !

Da zieht Lilli es dann doch vor, Szenario Nr. 1 durchzuspielen und freundlich zu tun. Sie kann schließlich nicht verantworten, dass ganz Deutschland in den Schmutz gezogen wird und von nun an bei der Nachbarin, die in ihrem ganzen Leben eine einzige Auslandsreise gemacht hat, als Land des Nichtlächelns unten durch ist. Ärgern tut sich Lilli natürlich doch, dass ihr Verhalten einer Einzelperson gegenüber auf das ganze Land umgelegt wird. Nächstens wird sie verlangen, dass die Nachbarin Lillis Freunde anruft, damit die ihr bescheinigen können, dass Lilli eine absolut hinreißende, manchmal durch Schüchternheit etwas ungeschickt oder gar verschlossen wirkende, dennoch großzügige und warmherzige Person ist. Denn solche Freunde hat Lilli tatsächlich, auch unter Kanadiern, allerdings hat sie sich diese selbst nach dem Kriterium der gegenseitigen Zuneigung ausgesucht und nicht danach, ob sie nun in der gleichen Straße wohnen oder nicht. Ts.
Nielsson - 9. Jul, 17:28

Mir wurde mal ähnliches vorgeworten - was nebenbei bemerkt zumindest teilweise stimmt. Geantwortet habe ich dann mit: "Ja, ich habe das mehrfach probiert, aber du hast nie zurückgegrüßt und dann habe ich es eben auch aufgegeben."
Danach war erstmal Ruhe. :-)

Lilli legt los - 10. Jul, 09:38

Immer diese Freundlichkeit

Wenn's mit dem Grüssen allein getan wäre, wäre es ja nicht so schlimm, das würde ich ja noch schaffen. Aber hier ist das Grüssen der Auftakt zu einem endlosen Austausch von Banalitäten, der manchmal über meine Kräfte geht: man muss sich gegenseitig fragen, wie es einem geht, was man so macht, wie es den Kindern geht, ob wir nicht auch finden, dass der Sommer ganz besonders schwül/regnerisch/schön ist und ob man sich nicht noch ein Kind/Auto/Schwimmbad anschaffen möchte... Wenn man nun aber keine Affinität mit der Person spürt, möchte ich doch bitte das Recht haben, dem aus dem Weg zu gehen! Bin ich deshalb ein schlechter Mensch?
Nielsson - 10. Jul, 10:38

Ganz sicher!

Das klingt recht ländlich. Wenn das dort halt Usus ist, dass man mit allen Nachbarn ein mehr als herzliches Verhältnis hat? Oder ist das nur diese Nachbarin?

In Städten ist das doch häufig so, dass gerade mal zu einem "Hallo" für alle Nachbarn reicht...
Lilli legt los - 11. Jul, 09:36

Ländlich? Montréal?

Ich glaube eher, es liegt daran, dass hier viele Leute (ganz nach amerikanischem Vorbild, wenn wir schon mal bei den Vorurteilen sind) unabhängig davon, ob sie nun einen echten Freund oder nur eine vom Sehen bekannte Nachbarin treffen, das gleiche Programm ablaufen lassen. Beim echten Freund ist das dann herzlich und ehrlich gemeint, bei allen anderen wirkt es aufgesetzt. Natürlich kommt in diesem Fall erschwerend dazu, dass meine Nachbarin und ich nun mal nicht auf der gleichen Wellenlänge liegen, aber vielleicht habe nur ich das gemerkt und sie nicht...

Tork (Gast) - 12. Jul, 08:11

jaja... die Deutschen...

einer meiner besten Freunde ist Schweizer und ich darf mir dauernd anhören, dass die Deutschen unnahbar, laut, falsch, arrogant, nicht hilfsbereit, unfreundlich und unverschämt sind. Achja, die deutschen Nationalspieler sind alle unsympathisch und verlieren deshalb zurecht. Und wenn die Deutschen mal gewinnen, hat der Schiri Fouls nicht gesehen, 11er zu Unrecht gegeben und außerdem haben die Deutschen total hinterhältig gespielt.

Egal... wir versuchen solche Themen zu vermeiden und dann kommen wir gut miteinander klar:-)
Lilli legt los - 13. Jul, 16:51

Zurück in die Zukunft...

Also, wenn ich jetzt nach Deutschland komme, fällt mir die ambiante Unfreundlichkeit der Eingeborenen schon auch auf (im Vergleich zur sehr demonstrativen Freundlichkeit, die z.B. Ladenpersonal hier an den Tag legt). Ein bisschen mehr lächeln und helfen wollen und Spass an der Arbeit könnte man sich da schon vorstellen. Aber deshalb fälle ich doch nicht gleich ein Urteil über das gesamte Land - das ist es doch, was mich an meiner Nachbarin so aufregt. Schliesslich sind doch die meisten Deutschen, die ich kenne (also wirklich kenne), genauso nett, offen, hilfsbereit, grosszügig usw. wie die Kanadier hier. Es ist einfach ein engstirniges Unding, dieses Schubladendenken!

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Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

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