Mitmenschen
Lilli hatte ihrer schwangeren Kollegin letzte Woche ein paar Ricola-Kräuterbonbons aufgenötigt ("was Gutes aus der Schweiz"), da sie ununterbrochen hustete und das in einem Grossraumbüro nicht zu ignorieren ist. Jetzt zeigt ihr die Kollegin, dass auf der Packung vor dem Verzehr während der Schwangerschaft gewarnt wird. Lilli hat ein schlechtes Gewissen und nimmt sich vor, schwangeren Frauen nie mehr auch nur irgendwas zu sagen. Noch nicht mal den Busfahrplan.
Lilli legt los - 18. Jun, 09:47
"Wenn man nichts vorhersieht, geschieht viel Unvorhergesehenes", sagte Lillis Generaldirektor vor versammelter Mannschaft, worauf der Gastvortragende glatt mit "Wenn ein Seemann nicht weiss, welches Ufer er ansteuern soll, dann ist kein Wind der richtige" konterte. Ein Sprichwort ist von Seneca, das andere ist glatt erfunden, aber beide sind sie gut.
Lilli legt los - 17. Jun, 18:45
In Montréal soll jetzt bald ein Katzencafé aufmachen - ein Café, das ein Dutzend Katzen beherbergt, die man dort streicheln darf, während man Kaffee trinkt. "Ronron Thérapie" heisst das auf französisch. Lilli und der kleine Strolch freuen sich schon.
Lilli legt los - 12. Jun, 18:15
Monsieur fand das Montrealer Formel 1-Rennen am Wochenende aufregend. Lilli ist froh, ihren Fahrradweg wieder für sich alleine zu haben. Nur für sie, eine Handvoll andere schweigsame Radler und 2 Millionen Möwen, die sich über die Hotdog-Reste hermachen.
Lilli legt los - 10. Jun, 19:07
So heisst das neue Gesetz, das die Provinz Québec gestern mit 94 gegen 22 Stimmen verabschiedet hat. Wer unheilbar krank ist und an Schmerzen leidet, die nicht gelindert werden können, kann, wenn er geistig voll zurechnungsfähig ist, von einem Arzt verlangen, dass dieser seinem Leben ein Ende setzt. Manche haben aus Glaubensgründen dagegen gestimmt, manche genau deshalb ("aus Nächstenliebe, die mir mein Glaube gebietet") dafür. Lilli jedenfalls findet es beruhigend, dass sie, sollte es einmal soweit kommen, die Wahl hat. Ein grosser Schritt für die Menschheit.
Lilli legt los - 6. Jun, 11:41
Lilli sucht eine Ferienwohnung. Darin ist sie spitze: sie weiss genau, wie die Minimalanforderungen aussehen, um ihre Familie glücklich zu machen, und flitzt behende zwischen airbnb und anderen FeWo-Sites hin und her, um Preise und Lagen zu vergleichen. In Gehnähe des Strandes muss sie liegen, damit Lilli allein morgens laufen gehen kann, während alle anderen noch schlafen. Internet muss sein, damit Monsieur keine beruflichen Existenzängste befallen. Zwei Schlafzimmer müssen her, mit Türen bitteschön und mit ordentlichen Betten in ordentlicher Länge, schliesslich ist Lilli mit ihren 5 Fuss 11 (ach, Kanadier geben zwar vor, das metrische System zu beherrschen, aber 1,78m sagt ihnen trotzdem nichts) inzwischen die Kleinste der Familie. Die Preise sind in Cape Cod - von Montréal aus mit dem Auto in 6 Stunden zu erreichen - für Lillis Begriffe wahnsinnig hoch, zudem findet sie keine Wohnung, die allen Anforderungen nachkommt. Dazu muss sie schon etwas weiter nördlich gehen, von den schönen Stränden weg in Richtung Boston, und tatsächlich findet sie ein Objekt in Plymouth, das zwar nicht billig ist, aber sowas von perfekt! Eine Terrasse mit Meerblick, die Einrichtung zwar nicht geschmackvoll, aber erträglich, eine richtige Küche, Parkettböden.... sie fühlt schon Schmetterlinge im Bauch und kann es kaum erwarten, bis der Besitzer ihr die Adresse durchgibt, damit sie das Haus googeln kann. Und wo liegt das Haus nun? Direkt am Strand, ja, aber auch DIREKT neben einem Kernkraftwerk. Für strahlend schöne Ferien, haha.
Lilli legt los - 21. Mai, 18:48
Lillis Kollege hat sich am Wochenende eine Insel ersteigert. Etwas über 2000 Dollar hat sie ihn gekostet, aber jetzt gehört sie ihm. Gross genug, um zwei Häuser darauf zu bauen - was er nicht darf -, stehen rundrum ein paar Tannen am Ufer, während die Mitte frei genug ist, um ein Zelt aufzuschlagen oder wenigstens den im Ruderboot mitgebrachten Liegestuhl so zu stellen, dass keine Menschenseele ihn sieht. Lilli ist sofort neidisch.
Lilli legt los - 20. Mai, 09:22
Die Kollegin, die Lilli letzte Woche vorhielt, so
kalt und verletzlich gewesen zu sein, hat sich zwei Tage danach krank gemeldet. Seit heute sucht das Unternehmen "unbefristet" nach einer Vertretung für sie, was auf eine lange oder schwere Krankheit schliessen lässt. Es sickert durch, dass die Kollegin seit der Ankündigung, dass ihre Vorgesetzte in Rente geht, wohl nervlich stark angeschlagen war. "Psychisch unstabil, paranoid, Zusammenbruch", hört Lilli aus sicherer Quelle. Das würde ja vielleicht erklären, dass Lilli so gar keine Ahnung hatte, was ihr eigentlich vorgeworfen wurde - weil die Frau sich Sachen zusammenreimte, die gar nicht passiert sind, oder Winzigkeiten zu monströsen Gemeinheiten aufbauschte. Trotzdem ist Lilli nicht erleichtert. Oder nur ein bisschen.
Lilli legt los - 9. Mai, 10:10
"Ton stand, madame!", ruft ein Fahrradfahrer Lilli entgegen, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass ihr Ständer raussteht. So sind sie, die Leute in Québec: in drei Worten schaffen sie es, englisch und französisch zu sprechen und Lilli gleichzeitig zu duzen und zu siezen.
Lilli legt los - 8. Mai, 18:23
Der grosse Strolch kommt beunruhigt aus der Schule. Sein Freund war heute vielleicht seltsam! Er gab nur murmelnd Antworten, die keiner verstand, und schien Schwierigkeiten zu haben, sich normal zu bewegen. Während des Theaterstücks, das die meiste Zeit des Vormittags einnahm, hing er schief in seinem Aulasessel, danach ging er ins Sekretariat, um sich krank zu melden. "Drogen oder Alkohol", dachte Lilli sich, "schlimm, schlimm". Sie hatte Recht mit "schlimm, schlimm", aber Drogen oder Alkohol waren nicht im Spiel, sondern ein Schlaganfall. Jetzt liegt der Junge auf der Intensivstation des Kinderkrankenhauses, die Ärzte geben sich zuversichtlich, die Eltern weichen nicht von seiner Seite. Dass auch Kinder Schlaganfälle erleiden können und man dabei nicht automatisch zusammenbricht, sondern über Stunden hinweg "normal" funktionieren kann - das wird in dieser Schule von jetzt an jeder wissen.
Lilli legt los - 2. Mai, 09:04