Mitmenschen
Dieser Tage muss Lilli im Büro abgeben, woran sie seit fünf Jahren arbeitet. Eine neue Kollegin übernimmt ihr Aufgabengebiet, damit Lilli was anderes machen kann. Lilli muss sie einarbeiten und stellt fest: es ist schwer, seine Projekte einfach so einem anderen Menschen anzuvertrauen. Sie will der neuen Kollegin alles sagen, was zur Fortführung der Projekte wichtig ist und merkt, dass manches gar nichts zur Sache tut, weil es zwar zum bisherigen Verlauf des Projektes gehört, auf den weiteren Verlauf aber keinen Einfluss hat. Sie kommt sich vor wie eine Mutter, die ihr Kind dem Babysitter übergibt und kein Ende findet: "Heute morgen hatte er gar keinen Hunger, dann aber hat er eine ganze Brezel gegessen, was er normalerweise gar nicht so mag, aber heute mochte er sie, und jetzt hat er vielleicht bald Durst, weil die Brezel ja salzig war, vielleicht aber auch nicht, meist trinkt er ja nicht so viel den Tag über, obwohl es auch vorkommen kann, dass er mittags zwei ganze Gläser Apfelsaft..." Alles nicht wichtig für den weiteren Verlauf des Tages, aber schliesslich muss man doch zeigen, dass man die ganze Zeit über, während man für das Kind verantwortlich war, eine gute Mutter war und stets Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen getroffen hat, und natürlich immer im Rahmen des Budgets.
Kurzum, es ist schwer, die Projekte abzugeben, aber es geht. Die Kollegin versteht sehr schnell (schneller als Lilli damals), worum es geht, und macht ihre Sache gut. Sogar sehr gut! Zu gut? Kurz hat Lilli Angst, im Vergleich zum Neuzugang plötzlich schlecht dazustehen, dann aber wendet sie sich ihrem neuen Projekt zu, das so neu ist, dass keiner sie mit einem Vorgänger vergleichen kann. Das hat doch was Beruhigendes.
Lilli legt los - 16. Sep, 18:37
Das soll Picasso gesagt haben, als er die Höhlenmalereien von Lascaux sah. Gestern war Lilli mit den Strolchen in der Wanderausstellung "Lascaux 3" im Montrealer Science-Museum und fand sich seltsam berührt von den schwimmenden Hirschen, der schwarzen Kuh, den vielen Pferden und den Mammuts mit dem noch stellenweise pelzigen Winterfell. Manche Figuren besitzen mehrere Köpfe in schrittweise veränderter Haltung, als ob eine Bewegung nach oben oder unten angedeutet werden sollte - wie in einem Animationsfilm, in dem diese Varianten schnell hintereinander abgespielt werden. Ein an die Deckenwölbung gemaltes Tier ist seltsam verlängert dargestellt, sieht aber von unten betrachtet vollkommen normal aus - ein visueller Effekt, der darauf schliessen lässt, dass hier Maler am Werk waren, die sich mit Perspektive auskannten. Zwischen den Tiergruppen sind seltsame grafische Zeichen zu erkennen, als handele es sich um Vorläufer von Buchstaben. Zwanzigtausend Jahre alt sollen die Höhlenmalereien sein, und tatsächlich fühlt man, dass diese Menschen uns ähnlich waren. Das einzige, was in der Multimedia-Ausstellung fehlte: ein Zeitgenosse von damals, mit dem man sich hätte unterhalten können. Das wäre mal ein interessanter Kaffeeklatsch gewesen.
Lilli legt los - 15. Sep, 10:51
Diesen Satz müssen sich die Strolche häufig anhören. Sie sind jetzt, mit 13 und 15, etwa 1,80m und 1,84m gross und damit durchaus bei den Grössten ihrer Altersstufe, aber noch lange keine Riesen. Trotzdem können Leute nicht umhin, sie darauf hinzuweisen, WIE GROSS sie sind - als ob dieses Wachstum mit Absicht in die Höhe getrieben worden wäre oder sie sich sonst irgendwie aktiv an der Entscheidung beteiligt hätten. Da Auch Lilli nicht von derartigen Bemerkungen verschont bleibt, ein Aufruf an alle Leser: was zum Donnerwetter nochmal kann man darauf antworten? Eine elegante und trotzdem gut sitzende Antwort wie ein Faustschlag auf den Oberarm, um diesen Leuten zu zeigen, dass ihre Bemerkung erstens überflüssig und zweitens ungehörig ist, denn wieso weisen sie auf ein Körpermerkmal hin, für das man nichts kann? Oder sagt jemand vielleicht: Mann, hast Du abstehende Ohren? X-Beine? Wenig Haare? Nein, das sagt man nicht. Hier ein paar Beispiele für Antworten, die Lilli schon ausprobiert hat:
- Ich bin nicht gross, Sie sind klein.
- Alles purer Ehrgeiz.
- Grösse ist immer proportionell zur Intelligenz, wussten Sie das nicht?
Und ihre Lieblingsantwort bisher:
- Nein.
Lilli legt los - 5. Sep, 10:10
Lilli sitzt in einer Besprechung. Um den Tisch herum sitzen Mitarbeiter aus unterschiedlichen Abteilungen, von Informatik über Buchhaltung bis hin zur Sicherheit. Anders ausgedrückt: 12 Frauen und ein Mann. Geleitet wird die Besprechung von Lillis Kollegin, die Lilli immer wieder mit ihrer Begabung, stets und auch aus dem Stegreif in vollständigen, eleganten Sätzen zu sprechen, umwirft. Ein Nachzügler betritt den Saal und versucht, so unbemerkt wie möglich an einen freien Platz zu gleiten. Da ruft der einzige männliche Teilnehmer erleichtert: "Nicolas! Endlich noch ein Mann! Da komme ich mir nicht mehr vor wie auf einer Tupperparty!" Ja, solche Leute gibt es noch, auch in einem modernen, nicht allzu hierarchischen Unternehmen im Jahre 2014. Erst jetzt beim Schreiben fällt Lilli ein, was sie darauf erwidern hätte können: "Alain, wann gehst Du noch mal in Rente?" Das nächste Mal vielleicht.
Lilli legt los - 4. Sep, 19:03
Wie schnell doch so eine Blinddarmoperation von statten geht! Dienstag abend operiert, ist der kleine Strolch am Mittwoch vormittag schon wieder zuhause. Schwach noch auf den Beinen und nicht sehr gesprächig, aber mit dem guten Gefühl, dass jetzt alles nur besser werden kann. Lilli selbst ist über Nacht ein besserer Mensch geworden: Auf dem Nachhauseweg musste sie durch die Notaufnahme durch, in der zu der Zeit - es war 21 Uhr - mindestens 10 Leute auf Liegen im Gang lagerten und darauf warteten, einen Arzt zu sehen. Eine bestimmt über 80jährige Dame in rosa Nachthemd hält einen Pfleger auf und fragt ihn, ob es wohl möglich sei, etwas zu Essen zu bekommen. Der Pfleger, der Lilli den Gang versperrt und sie dadurch zwingt, das Gespräch mit anzuhören, erklärt höflich, dass keinerlei Essen für die Leute im Wartesaal vorgesehen ist. Die Dame seufzt, sie hätte so sehr Hunger, der Pfleger beteuert, wie leid es ihm tut, dann geht er weiter. Zu ihrer Beschämung muss Lilli eingestehen, dass sie zögert. Es ist spät, sie ist müde von der ganzen Aufregung um den kleinen Strolch, es regnet und sie ist mit dem Fahrrad unterwegs. Dann aber hält sie den Pfleger an und fragt ihn, ob etwas dagegen spricht, dass sie der Frau ein Sandwich kauft. Nach Abprache mit der Krankenschwester an der Aufnahme gibt ihr der Pfleger die Erlaubnis. Lilli sprintet zurück zu der Frau und fragt sie, was sie gerne essen möchte. Leicht verwirrt erwidert diese, es gäbe nichts zu essen. Lilli geht ins Untergeschoss zur Caféteria, die inzwischen geschlossen hat, und zieht ein Sandwich und einen Orangensaft aus dem Automaten. Zurück im Gang legt Lilli ihre guten Gaben der Frau auf den Schoss, macht ihr die Flasche auf, zeigt ihr den Strohhalm, breitet Papierservietten um sie herum. Lächelnd und immer noch leicht verwirrt bedankt sich die Frau und sagt: "Ich hab noch nicht mal einen Tisch." Nein, wer allein auf einer Liege in der Notaufnahme liegt, hat wirklich rein gar nichts.
Lilli legt los - 3. Sep, 12:19
Die Leiterin des Kundendienstes auf dem Kreuzfahrtschiff hiess übrigens Milka und kam aus Mazedonien. Der Sicherheitsbeauftragte, ein Österreicher, hiess Adolf und war noch keine 60 Jahre alt.
Lilli legt los - 22. Aug, 10:11
Lilli kann sich noch erinnern, über ihre Freundin C. geschrieben zu haben. Wie sie seit sieben Jahren eine Fernbeziehung führte mit ihrem Freund in Boston, der als Alleinunterhalter über alle Meere schipperte, während sie in Montréal einen gutbezahlten Job in einer Firma hatte, deren Produkte ihr gegen den Strich gingen. Wie sie im Frühling erzählt hatte, jetzt bald zu kündigen, um nach Boston umzuziehen und ihren Freund zu heiraten. Wie schwierig diese Entscheidung gewesen sei und wie gut und mutig sie sich fühlte hinterher. Wie ihre Eltern, die die Fernbeziehung kritisch betrachtet hatten, jetzt meinten, sie müsste doch nicht gleich in die USA umziehen, "nur weil ihr dann verheiratet seid". Wie sie leicht enttäuscht darauf reagierten, dass kein Pfarrer die Trauung vornehmen würde, aber dann erleichtert waren, dass auch kein Rabbi dabei sein würde.
Lilli war mit dem Text nicht zufrieden und hat ihn nicht veröffentlicht. Als Hochzeitstermin war der 8. August angesetzt. Letzte Woche erhielt Lilli die Nachricht, dass der Freund auf seinem letzten Kreuzfahrteinsatz am Guillain-Barré-Syndrom erkrankt und in die Dominikanische Republik ausgeflogen worden war. C. flog zu ihm, um seinen Rücktransport nach Boston zu organisieren, sobald er dazu in der Lage sein würde. Gestern bekam sie einen Spendenaufruf, um sich an den horrenden Kosten zu beteiligen, zusammen mit der Nachricht, dass eine Lungenentzündung den Rückflug im Moment unmöglich machte. Heute Nacht ist er gestorben, mit C. an seiner Seite.
Lilli ist auch mit diesem Text nicht zufrieden, da er weit davon entfernt ist, in Worte zu fassen, wie sie sich fühlt. Sie wird ihn trotzdem veröffentlichen, als Beweis dafür, wie ungerecht das Leben ist. Oder der Tod, aber im Prinzip ist das ja das gleiche.
Lilli legt los - 4. Aug, 10:43
Eine schwangere Frau schlängelt sich durch die parkenden Autos des Parkplatzes bis zu Lilli durch und fragt sie, ob sie etwas Kleingeld hätte. "Wofür?", fragt Lilli verblüfft - im Moment hat sie Urlaub, ist in Gedanken mit Zimmerstreichen beschäftigt und hat andere Zonen ihres Gehirns temporär auf Eis gelegt. "Für Essen und Bus fahren", sagt die Frau mit wenig Überzeugung. Lilli starrt auf ihren Sieben-Monats-Bauch, der in ihrer Welt absolut nicht mit Betteln zusammenpassen will. Bauch und Betteln, das darf nicht sein. Zotteliger Bart und Betteln, das kennt man, stinkige Jeansjacken und Betteln, schlechte Zähne und zittriger Arm und Betteln, das sind so Bilder, an die sich Lilli in Montréal gewöhnt hat. Eine schwangere Bettlerin ist ihr bisher noch nicht begegnet. "Nein, ich hab nur Karten dabei", sagt Lilli mit genauso wenig Überzeugung. Sie ärgert sich über sich, über die Frau, über den Typen mit Schlägermütze, der 50 Meter weiter auf dem Gehweg steht und zu der Frau zu gehören scheint. Und über die Zeit, in der sie lebt und in der eine schwangere Frau so arm ist, dass sie betteln muss, um sich und ihr Kind ernähren zu können. Oder lügt.
Lilli legt los - 23. Jul, 17:16
Wenn Lilli dieser Tage jemand im Büro fragt, wie es so geht, reisst sie Augen und Mund auf und schüttelt den Kopf, dass die Haare nur so fliegen. Alles klar, denken sich die Leute: noch fünf Tage bis zum Urlaub, da hat jetzt die Torschlusspanik eingesetzt. Schliesslich kann man nicht in Urlaub gehen, ohne sich vorher total kaputt zu arbeiten, um aus dem Weg zu schaffen, was einem sonst im Urlaub durch den Kopf geht, während man Pyramiden in Kairo ansieht oder die Zehen am Ontariosee in den Sand bohrt. "Nichts ist umsonst im Leben", sagen die Leute aufmunternd und wünschen ihr, bis zum Urlaubsbeginn zu überleben. Abends werkelt Lilli in der Küche und kneift die Augen zu, um nicht zu sehen, dass eigentlich die Spülmaschine ausgeräumt werden müsste, bevor sie ins Bett flieht.
Lilli legt los - 10. Jul, 19:24
Ab 10 vor fünf bekommt Lilli E-mails mit dem Spielstand ins Büro geschickt. 4-0, heisst es, dann 5-0, später 7-0. Das "für Deutschland" steht noch nicht mal dabei, das wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Die Sender nehmen an, Lilli freut sich darüber, und das Erstaunliche ist: sie tut es tatsächlich.
Lilli legt los - 8. Jul, 21:33