Mitmenschen

Dienstag, 23. Dezember 2014

Vater-Land

Lillis Vater hat angefangen, komische Sachen zu sagen. Nach dem Schlaganfall vor ein paar Jahren, meinte die Neurologin neulich, seien viele Hirnzellen abgestorben, sodass man sich auf eine Verschlechterung seines kognitiven Zustandes einstellen müsste. Das ist zwar nichts grundlegend Neues, aber jetzt, wo es losgeht, trifft es Lillis Mutter doch ganz hart. Denn wer weiss, wie schnell es mit ihm bergab gehen wird, wo man schon einmal auf der schiefen Ebene steht? Wie schnell er zum Pflegefall wird, wo sie doch nicht gerade die Geduldigste ist und im Moment eher unwirsch als mit Güte und Toleranz auf seine immer häufiger auftretenden Gedächtnislücken reagiert? "Das habe ich bei Ihnen immer umsonst bekommen", sagte Lillis Vater dem Uhrmacher neulich, als der eine neue Batterie in seine Uhr einsetzte. Was natürlich nicht stimmte und vom Uhrmacher auch höflich angezweifelt wurde. "Wieviel Wasser soll ich in die Kaffeemaschine tun?", fragt er Lillis Mutter, als diese mit Lilli am Telefon ist, obwohl er das genau weiss - oder bisher jedenfalls wusste, jetzt aber vergessen hat. "Wo kommen die leeren Flaschen hin", will er auch noch wissen, obwohl er immer für den Transport des Leergutes und das damit einhergehende Hin-und Herräumen der Flaschen verantwortlich war. Lilli denkt an letztes Weihnachten zurück, als sie ihren Vater zum letzten Mal gesehen hat. Und daran, wie er wohl sein wird, wenn sie ihn das nächste Mal sieht. "Man ist immer im Werden", hat sie gestern erst gelesen. Ab jetzt wird ihr Vater aber wohl immer weniger.

Freitag, 12. Dezember 2014

Lilli singt

Heute abend hatte Lilli die Wahl zwischen Weihnachtsfeier im Büro oder Kirchenchor. Sie hat sich für Kirchenchor entschieden und war sogar ganz froh darüber, so eine gute Ausrede zu haben.

Nicht, dass Lillis Kollegen nicht nett wären. Sie sind sogar die nettesten Kollegen, die sie je hatte. Weihnachtsfeiern sind trotzdem schrecklich.

Dienstag, 2. Dezember 2014

Die ganz normale Kälte

Beim Nachhausegehen vom Zug hatte es -10 Grad, aber gefühlte -18 Grad laut Wetterbericht. Lilli und der grosse Strolch müssen heute abend trotzdem nochmal los, zum Gitarrenunterricht. Das findet Lilli bewundernswert hier in Montréal: dass die Leute einfach ganz normal weitermachen, als wäre nichts dabei, solche Temperaturen aushalten zu müssen. Och, wenn es länger dauert, kann es schon mal sein, dass sie sich über die Kälte beschweren, aber einfach nur zuhause rumsitzen und Suppe essen kommt nicht in Frage. Die Leute gehen schwimmen, sitzen in der Uni, stehen um Kinokarten an, treffen sich im Gemeindesaal der Kirche zum Singen. Das heisst "der Kälte die Stirn bieten" - aber bitte mit Mütze und Kaputze.

Mittwoch, 5. November 2014

Wir sind kultiviert

"Sind Québecer kultiviert?", wollte vor kurzem die Montréaler Zeitung wissen und hat die Leute mit einem aus 33 Fragen bestehenden Quiz über Allgemeinwissen getestet. Das Ergebnis ist der Schocker: die Teilnehmer erzielten im Durchschnitt magere 42 % und die Männer schnitten besser (sagen wir mal: weniger schlecht) ab als die Frauen. Sofort musste Monsieur sich selbst und auch Lilli dem Test unterziehen, mit dem Ergebnis, dass er 75 % und Lilli 70 % richtig hatten. Man liegt also über dem Durchschnitt, was für eine Erleichterung! Lilli als Einwanderin hatte natürlich den Nachteil, in kanadischer und lokaler Geschichte nicht Bescheid zu wissen - es bleibt die Frage, ob sie in deutscher und europäischer Geschichte besser abgeschnitten hätte... Auch muss Lilli eingestehen, dass die Schulbildung der Strolche ihr zu aktuellem Wissen verhilft, das andernfalls nicht zugänglich gewesen wäre: sie weiss nur, dass Neptun und nicht Pluto der am weitesten von der Sonne entfernte Planet ist, weil die Strolche ihr es erzählt haben. Und auch den grössten Ozean hätte sie ohne die Strolche nicht geschafft.

Viel wichtiger als die Frage, wie gut man in diesem Quiz abschneidet, findet Lilli es, sich darüber Gedanken zu machen, was denn nun "kultiviert" eigentlich heisst. Ist man kultiviert - so die Behauptung der Zeitung jedenfalls -, weil man weiss, dass der Montréaler Hockeyspieler Maurice Richard 1955 im Zuge einer Auseinandersetzung mit einem Linienrichter einen Aufstand ausgelöst hat? Welche kanadische Autorin den entsetzlich deprimierenden Roman "Bonheur d'occasion" geschrieben hat? Wie man eine Rezession definiert und welcher Filmemacher Starwars gedreht hat? Lilli jedenfalls hat das mulmige Gefühl, dass kultiviert sein etwas anderes sein müsste. Zum Beispiel, dass es zu tun hat mit Kultur, also mit Kunst und Literatur und Musik und Theater, und auch mit anderen Kulturen dieser Welt. Oder ist das Kultiviertsein nur auf die unmittelbare Umwelt bezogen, in der man lebt, auf die örtliche Geschichte und die Kultur, die das Fernsehprogramm vermittelt? Wenn das alles ist, was von einem kultivierten Menschen erwartet wird, steht es schlecht um die Menschheit...

Montag, 27. Oktober 2014

Pause

Lillis Zeichenlehrer heisst übrigens Clément, der Milde. Am Samstag sprach er über Aktmodelle und wie schwer sie es doch haben. Was ihm dabei überhaupt nicht auffiel: dass die Wörter "Pose, Körperstellung" und "Pause" im Französischen Homophone sind: "pose" und "pause" hören sich genau gleich an. Er sagt also ungefähr dies: "So ein Aktmodell kann nur etwa 20 Minuten lange eine pose halten, dann geht sie in die pose. Wenn sie aus der pose zurückkommt, geht sie in ihre pose zurück, aber oft ist diese pose dann doch anders als die pose vor der pose." Lilli gluckst, der Milde guckt verstört.

Mittwoch, 8. Oktober 2014

Nur so am Rande

Was ergänzt Google, wenn man "doppelt so" in die Suchmaske eingibt? "Doppelt so kalt wie 0 Grad." Wer googelt sowas, und warum? Und wie kalt ist das nun eigentlich?

Wie im Drehbuch

Es ist interessant, mal aus dem gewohnten Lebensrhythmus auszubrechen und festzustellen, dass es andere Leute anders machen. So stand Lilli gestern um 4 Uhr 30 auf, ging um 5 Uhr 30 zum Bus und fand diesen tatsächlich schon gut besetzt mit stillen Leuten, die ihre Vespertasche umklammernd zur Metrostation fuhren, um sich dort mit anderen stillen Leuten von der Metro verschlucken und später wieder in der Innenstadt ausspucken zu lassen. Dass es Leute gibt, die jeden Tag so früh aufstehen! Andererseits sind die natürlich um halb drei nachmittags fertig, wenn Lilli gerade ihr Verdauungstief hat und in der Schreibtischschublade nach einer alten Toblerone kramt. Und gehen ins Bett, wenn Lilli gerade die Spülmaschine einräumt und sich danach zu den Nachrichten aufs Sofa plumpsen lässt. In ihrem normalen Leben begegnet Lilli diesen Leuten somit niemals - als ob sie in verschiedenen Zeitblasen lebten, die einander nicht berühren, obwohl sie geografisch am gleichen Ort hängen. Bis auf diesen einen Tag, an dem Lilli eine besondere Mission erhielt... Fast kommt sie sich vor wie in einem Science-Fiction-Film.

Samstag, 4. Oktober 2014

Für die Katz

"Ven aqui", ruft Lillis Kollegin der Katze zu, die draussen auf dem Balkon steht, "ven aqui, gatito!" Seit sie bei ihrem kolumbianischen Freund und dessen zwei Töchtern wohnt, muss sie ganz schnell spanisch lernen, um von der Hauskatze verstanden zu werden. Die reagiert nämlich nur auf spanisch, nicht auf französisch. Lilli googelt "Zweisprachigkeit bei Katzen" und findet - nichts. Scheint es nicht zu geben...

Mittwoch, 1. Oktober 2014

Wie man einen Zeichenkurs massakriert

Am Wochenende waren Lilli und Monsieur zum ersten Mal im Zeichenkurs. Der Lehrer schaut hauptsächlich auf den Boden, lächelt nicht und macht generell den Eindruck, dass er lieber woanders wäre als hier in diesem Altersheim mit diesem Anfängerkurs. Ja, die Kunstschule mietet zwei Räume in einem Altersheim, was im Prinzip eine gute Idee ist, da sowohl das Altersheim sich dadurch eine neue Kundschaft erschliesst, die im Eingangsbereich sitzenden Insassen was zum Gucken haben und die Kurse in einem garantiert ruhigen Ambiente vonstatten gehen. "Dies ist ein Bleistift", sagt der Lehrer gelangweilt und hält einen Bleistift hoch, damit alle Schüler ihn gut sehen können. "Dies ist ein Rötelstift. Rötel macht man aus Schweineblut", sagt er. "Das ist Kohle, aber damit werden Sie nicht zeichnen wollen. Kohle ist ein unangenehmes Medium, es schmutzt sehr", sagt er. Lilli und Monsieur sehen sich ungläubig an. Lilli hatte sich eher einen mitreissenden Lehrer vorgestellt, der den Schülern so richtig Lust macht, jetzt sofort mächtig kreativ zu werden. Stattdessen kramt er lange in den Schränken herum, bevor er ihnen eine Bumenvase mit einer Stofftulpe auf den Tisch stellt, die alle jetzt zeichnen sollen. "Stillleben bestehen hauptsächlich aus Obst und Geschirr", sagt er, "deshalb ist es wichtig, Ellipsen zeichnen zu können." Als er zu Lilli kommt, schüttelt er angesichts ihrer Bemühungen traurig den Kopf. "Die Blume ist nicht ganz falsch, aber die Vase...". Er nimmt den Radiergummi und rubbelt auf ihrem Blatt herum. "So ist es nicht mehr ganz so schlimm", sagt er. Lilli findet ihr Bild nicht ganz so schlecht für den Anfang. Den Lehrer aber, den findet sie ganz schlimm.

Samstag, 27. September 2014

Lilli und Brian Ferry

Gestern war Lilli in einem Konzert von Brian Ferry. Eine Idee von Monsieur, und keine gute noch dazu. Wie alt ist der Mann jetzt? Fast 70, und dementsprechend zerbrechlich sah er aus. Er sang seine alten Hits, die anders klangen als früher, weil laut Monsieur im Alter die Stimme tiefer wird. Aufgemöbelt wurde sein Gesang durch eine sympathische Schar von Musikern, die durchweg seine Enkel hätten sein können, und ein paar hübsche Lichteffekte. In Lillis Ohren dröhnte es, während die grauhaarigen Nachbarn links, rechts, vorne und hinten rhythmisch mit dem Kopf wackelten und pfeifend und johlend ihre Begeisterung kundtaten. Warum muss das Ganze nur so laut sein? Warum singt der Mann nicht mal was Neues, das besser für seine Stimme geeignet wäre? Warum singt er überhaupt noch? Lilli kam sich einsam vor und nicht normal.

Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

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Zuletzt aktualisiert: 23. Mai, 03:27

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