Mitmenschen

Donnerstag, 19. Februar 2015

Wortlos

In Lillis Firma arbeiten knapp 800 Menschen in über die Stadt verstreuten Standorten. Lilli kommt nicht mit allen in Kontakt, manche sieht sie überhaupt nie, mit anderen hat sie regelmässig oder sporadisch E-Mail-Verkehr. Durchschnittlich einmal pro Woche erhält sie eine Todesanzeige vom Personalwesen, "Wir bedauern, den Tod von X, Vater von Y, Sekretärin in der Informatikabteilung, bekanntgeben zu müssen. Die Trauerfeier findet am Samstag usw." Diese Anzeigen gibt es nur, wenn die Mitarbeiter es ausdrücklich wollen. Manchmal wird Ort und Uhrzeit der Beerdigung bekanntgegeben, manchmal aber auch nicht, wenn die Leute nicht wollen, dass ihre Kollegen dort auftauchen. Die meisten aber wollen mitteilen, dass sie einen Todesfall in der Familie haben. Damit sie es nicht jedem einzeln erzählen müssen, damit die Kollegen verstehen, warum sie anders sind als sonst oder warum die Arbeit im Moment nicht so vorangeht, wie man es von ihnen erwartet.

In den fünf Jahren, in denen Lilli dort arbeitet, sind also schätzungsweise 250 Leute gestorben, die mit ihren Kollegen verwandt waren. Heute aber war es nicht "Vater von Y" oder "Schwägerin von Z", sondern die Tochter eines Kollegen. Zwanzig Jahre, Autounfall. Normalerweise schreibt Lilli eine E-Mail, um dem Kollegen ihr Beileid auszusprechen. Heute aber wollten die Worte nicht kommen. Beim Googeln stiess sie auf ein Zitat von Victor Hugo, der um seine Tochter Leopoldine trauert: "Tu n'es plus là où j'étais, mais tu es partout là où je suis" (Du bist nicht mehr da, wo du warst – aber du bist überall, wo wir sind.) Es wird ihm nicht helfen.

Mittwoch, 18. Februar 2015

Alles oder nichts

Lilli ist verwirrt. In der Talkshow sitzen vier Powerfrauen im Cocktailkleid (nein, diejenige, die am nettesten aussieht, hat eine Bluse und einen dunklen Blazer an) und stellen ihr neues Projekt vor. Sie, die bereits Führungspositionen in grossen Unternehmen innehaben, wollen anderen Frauen helfen, ihre Karriere voranzubringen. Da geht es um Verhandlungsstrategien, Zeitmanagement, Sponsoring, Fortbildungen - insgesamt eine gute Idee, denn Frauen - wie Männer - brauchen ein Netzwerk, um ganz nach oben zu kommen. Die erste Frau wird gefragt, worauf sie besonders stolz sei. Sie erzählt vom Wechsel aus einer Branche in eine andere und wie sie es geschafft hat, die Verkaufszahlen bla bla bla. "Darauf bin ich, glaube ich, am meisten stolz, gleich nach meinem Sohn", schliesst sie ab. Die nächste Frau wird gefragt, was sie als beruflichen Meilenstein ansieht. "Meine Tochter. Und natürlich die Erneuerung unserer Produktpalette im Zeichen der neuen Medien bla bla bla."

Der Moderator fragt, ob Männer eigentlich auch ihre Kinder nennen würden, wenn man sie nach ihrer Karriere fragt. "Nein, aber sie sollten es tun", kommt prompt die Antwort.

Die dritte Powerfrau gibt ebenfalls an, dass ihre Tochter ihr grösster Stolz ist - wie könnte sie auch anders, sonst wäre sie ja eine Rabenmutter im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen. Die vierte Frau (die nette im Blazer) hat keine Kinder. Und fühlt sich gezwungen, das gleich am Anfang klarzustellen: "Da ich keine Kinder habe, kann ich gleich zu meinen beruflichen Highlights übergehen. Bla bla bla."

Auf Lillis Stirn erscheint ein grosses Fragezeichen. Sie ist peinlich berührt von diesen Frauen, die ihren Platz neben den Männern eingenommen haben und anderen dabei helfen wollen, das gleiche zu tun - und die doch irgendwie den Eindruck machen, sie müssten erst mal klarstellen, dass sie AUCH Mutter sind. UND sexy auch noch, du lieber Himmel, deshalb ja die Cocktailkleider. Weil man sonst womöglich denkt, sie wären keine richtigen Frauen? Weil eine Frau in Führungsposition gleich den Verdacht erweckt, dazu nur gekommen zu sein, weil sie "wie ein Mann" sein kann? Irgendwie passt das alles nicht zusammen. Wenn Lilli nach ihren beruflichen Leistungen gefragt wird, erzählt sie nicht, dass sie zwei Söhne hat, weil das nicht zur Sache gehört. Sie will doch als Expertin in ihrer Branche ernstgenommen werden, nicht als "arbeitende Mutter". Die Mutter bleibt zuhause, sie geht nicht mit Lilli ins Büro, genauso wie die Kommunikationsfachfrau abends im Büro bleibt und nicht mit der Familie Abendbrot isst (meistens jedenfalls).

Solange Frauen anderen Frauen vorleben, dass man alles haben kann - Kinder, Karriere, Traumbody und Zeit für soziales Engagement - werden sich tausende von Frauen damit unglücklich machen, diesem Ideal entgegenzustreben. Lilli vermutet, dass bei den Powerfrauen auch nicht alles so rosig ist, wie es vor der Kamera aussieht: im Job sind sie nicht so präsent, wie es von ihnen erwartet wird, ihren Kindern gegenüber haben sie ein schlechtes Gewissen und wenn sie nicht mehr in ihr Kleid passen, hassen sie ihren Körper und sich selbst. Hätte nicht eine wenigstens sagen können: "Am meisten bin ich auf die Verkaufszahlen bla bla bla stolz. Daran habe ich hart und lang gearbeitet, während mein Mann oder ein Babysitter abends mit meinem Sohn gegessen und Hausaufgaben gemacht hat. Aber das war es mir wert und meinen Sohn liebe ich trotzdem von ganzem Herzen, was dieser auch weiss."

Nein? Bis dahin ist wohl noch ein Weilchen.

Freitag, 13. Februar 2015

Sieht irgendwie komisch aus

Männer, die im Zug selbstgemachte Smoothies trinken.

Manchmal kann Lilli nicht glauben, wie doof sie sich selbst findet.

Donnerstag, 12. Februar 2015

Lillis Chefin, die Piratenbraut

Das Sich Beschweren hat sich gelohnt. Lilli durfte ihre Geschichte dem Zweigstellenleiter erzählen, der sich noch einmal entschuldigt und versprochen hat, seinem Personal das Bemühen um die viel angepriesene Kundenzufriedenheit einzubleuen. Ausserdem hat er Lilli eine Gutschrift im Wert von 100 $ versprochen, die in der Zweigstelle auf sie wartet.

Nur.

Um die Gutschrift abzuholen, muss sich Lilli natürlich dem Personal der Zweigstelle gegenüber als die Dame bekennen, die sich beschwert hat. Und dann das Gefühl haben, zwischen Shampoo und Deo von Blicken, die töten können, begleitet zu werden. Was, wenn das Personal anfängt, sie zu hassen? Pläne gegen sie, ihre Autoreifen oder gar ihre Strolche schmiedet? Ihr das falsche Medikament gibt, um sie hinterrücks umzubringen? Vielleicht sollte sie lieber nicht hingehen, nie wieder hingehen und die Gutschrift einfach sausen lassen?

"Oder geh hin, hol dir die Gutschrift ab und gib sie in einer anderen Zweigstelle aus", rät ihr ihre Chefin. Diese Frau ist wirklich mit allen Wassern gewaschen...

Dienstag, 10. Februar 2015

So weit kommt's noch

Kaum hat Lilli mal fünf Jahre für die gleiche Firma gearbeitet, fühlt sie sich auch schon wohl dort. Nicht, dass es ihr nicht schon vorher gefallen hätte - was unter anderem daran liegt, dass sie ausserordentlich nette Kollegen hat -, aber jetzt fängt sie an, sich so sicher zu fühlen, dass ihr neue Aufgaben Spass anstatt Angst machen. Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass sie bisher nicht hinausgeworfen wurde, was wiederum entfernt damit zusammenhängen muss, dass sie sich einigermassen korrekt ihrer Aufgaben entledigt. Oder auch damit, dass sie inzwischen mehrere ihrer Kollegen aus anderen Abteilungen mit Namen kennt und durchaus mit ihnen in der Kantine essen kann, ohne vor Angst, beim Sprechen mit vollem Mund ertappt zu werden oder sich vor lauter Ungeschicktheit am Salat zu verhusten, unter den Tisch zu kriechen.

Jedenfalls stellt sie fest, dass sie in letzter Zeit durch die Räume segelt wie ein Trimaran zwischen Québec und Saint-Malo. Das ist für Lilli ungewöhnlich und bevor ihr es zu wohl wird, tröstet sie sich mit dem Gedanken, dass ihre Chefin im Sommer in Rente geht und ein ganz neuer Unsicherheitsfaktor in Gestalt eines neuen Bosses auftauchen wird. Damit die Sache mit der Nervosität wieder ins Lot kommt.

Donnerstag, 5. Februar 2015

Facebook in seiner ganzen Schönheit und Tücke

Letzte Woche war Lilli sauer. Ihr Lieblingsdrogeriemarkt hat sie schlecht behandelt, schlechte Passbilder gemacht (sie waren nicht nur hässlich, sie waren vor allem im falschen Format und wurden von der Passstelle abgelehnt), schnippische Antworten gegeben und insgesamt keinen Willen gezeigt, nach einer Lösung zu suchen, als plötzlich etwas nicht so war wie im Prospekt beschrieben. Lilli schrieb eine lange Mail an den Kundendienst, um sich zu beschweren - nicht so sehr über den Fehler mit den Passbildern als über die Einstellung des Personals, das sich offensichtlich kein bisschen darum scherte, wie Lilli ihren Service fand. Eine Woche lang bekam sie keine Antwort - fast schon eine Ewigkeit heutzutage. Gestern morgen schrieb sie eine neue Mail, in der sie die Funkstille bedauerte, die aber gleichzeitig als zusätzlicher Beweis gewertet werden konnte, dass diesem Drogeriemarkt die Meinung seiner Kunden egal ist. Ausserdem veröffentlichte sie ihre erste Mail auf der Facebookseite der Kette und wiederholte, wie bedauerlich sie es doch fand, seit einer Woche auf eine Antwort warten zu müssen.

Aber hallo.

Nur 43 Minuten später war die Antwort von Facebook da. Man würde sich um sie kümmern, die Zweigstelle verständigen, Lilli entschädigen, das Personal besser ausbilden und dafür sorgen, dass so etwas nicht noch einmal vorkommen würde. Zwei Stunden später bekam sie auch auf ihre Mail eine Antwort vom Kundendienst mit in etwa der gleichen Botschaft. Vier Stunden später schliesslich bekam sie eine Mail vom Geschäftsführer der Zweigstelle, der zwar im Moment im Urlaub ist, sich aber sofort nach seiner Rückkehr persönlich um ihren Fall kümmern würde.

So weit wäre Lilli nun wiederum nicht gegangen - den armen Mann in Kuba am Strand stören wegen einer Beschwerde einer Kundin. Das aber, liebe Leute, ist die Macht von Facebook. Für Firmen eine tolle Gelegenheit, ihre Sonderangebote an die Kunden zu bringen, aber auch für die Kunden besser als ein vollbesetzter Kinosaal, um den Ruf einer Firma zu schädigen.

P.S.: In Deutschland hätte sich Lilli wahrscheinlich nicht über unfreundlichen Service beschwert. Aber hier, im Land des Lächelns? Anytime.

Sonntag, 1. Februar 2015

J'suis snob

Weil heute Superbowl in USA ist und Monsieur für die Übertragung gerne viel Testosteron um sich hat, muss Lilli grosse Mengen an Fingerfood vorbereiten. Deshalb hat sie gestern einen neuen Super-Supermarkt ausprobiert, der für seine Grosspackungen zu kleinen Preisen bekannt ist. Die Rechnung - so lang wie Lillis Arm - ist tatsächlich billiger als gedacht. Das Beste an dem Laden ist aber dies: man könnte im Schlafanzug hingehen und würde nicht weiter auffallen.

Mittwoch, 28. Januar 2015

Lilli schwimmt

Ein kanadisches Hallenbad ist kein Spielplatz. Hier gibt es drei Bahnen, die anhand von am Kopfende aufgestellten Schildern in "langsam", "mittel" und "schnell" eingeteilt sind. Meist schwimmt Lilli in der langsamen Bahn, weil dort weniger los ist als in der mittleren - ohne unbedingt langsamer zu sein, denn Geschwindigkeit ist bekanntlich relativ und wenn sie Gluck hat, kann sie dort in ihrem Rhythmus schwimmen, ohne ihrem Vordermann die Füsse zu berühren oder selbst von hinten Druck zu bekommen. Es gibt aber auch Tage, an denen Lilli ihre Mitschwimmer am liebsten auf den Mond schiessen oder zumindest in eine neue Bahn - man könnte sie "Schildkröte" nennen - befördern würde. Manchmal, wenn ganz viel los ist, teilen die Bademeister eine vierte Bahn ab. Für diese vierte Bahn gibt es aber leider kein Schild, sodass sich dort alle möglichen Geschwindigkeiten zusammenfinden, die alle meinen, sie würden nirgendwo anders reinpassen. Dass bei dem sich dort abspielenden Gerangel, Sich-gegenseitig-in-die-Seite-kicken und Überholen noch keiner ersäuft wurde, ist ein Wunder. Wahrscheinlich passen die Wassergymnastler, die sich im verbleibenden handtuchgrossen Beckenteil mit Poolnudeln vergnügen, mit auf.

Ach ja, noch ein Grund zur Unmut: seit kurzem ist der Wasserspiegel so niedrig, dass Lilli sich im flachen Teil die Knie anstösst. Wenigstens sind die Duschen schön heiss.

Montag, 26. Januar 2015

Sparmassnahme

Lillis Kollegin macht die Runde, einen nassen Teebeutel über ihrer Tasse schwenkend: "Ich trink meinen Tee nur ganz schwach. Will jemand meinen Teebeutel weiterbenutzen?"

Das ist wohl nicht, was man unter Second Flush versteht...

Montag, 5. Januar 2015

Ohne Strom nix los

Gestern fiel bei Lilli der Strom aus. Im ganzen Viertel war es dunkel, dazu schaurig kalt und windig. Das ist die Kombination, bei der Lilli ganz schnell ganz klein und ängstlich wird. Schon nach 3 Stunden hatte es nur noch 16 Grad im Haus, da bleibt nur noch ins Bett gehen und hoffen, dass der Schaden über Nacht repariert wird. Die Aussicht auf keine Dusche und keinen Kaffee am nächsten Morgen ist ebenfalls ausserordentlich deprimierend. Lilli würde es keine drei Tage in einem Flüchtlingslager aushalten.

Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

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Zuletzt aktualisiert: 23. Mai, 03:27

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