Strolche
Seit drei Wochen muss Lilli jeden Donnerstag abend ihr Biogemüse am Lastwagen neben dem Supermarkt abholen. Ein Bio-Abo, das lokalen Bauern hilft, die Saison vorzufinanzieren, und Lillis Familie ein bodennahes Gefühl von "wir-essen-bio-von-hier-und-schwingen-im-Einklang-mit-der-Natur" vermitteln soll. Also: zuerst Salat und Frühlingszwiebeln, später Tomaten, und wenn es Erdbeeren gibt, gibt es noch keine Himbeeren. Schliesslich wuchs Lilli mit Ackerdreck unter den Fingernägeln auf und ihre Strolche sollen in den gleichen Genuss der Naturabhängigkeitverbundenheit gelangen.
Nur, dass es letzten Donnerstag Fenchel gab. Lilli weiss nicht, wie man das Ding schneidet und welches Ende man isst. Der grosse Strolch lehnt kulinarische Neuigkeiten, die nicht aus Fleischbällchen und Tomatensosse bestehen, ab, und der kleine Strolch behauptet, Fenchel schmecke nach Lakritze. "Und?", fragt Lilli hoffnungsvoll. "Und Lakritze mag ich nicht." Lilli auch nicht.
Lilli legt los - 12. Jul, 07:00
"Das
Camp hätte ruhig noch eine Woche länger dauern können", sagt der kleine Strolch im Auto und summt neu erlernte Lagerfeuerlieder vor sich her. Lilli hatte sich ganz umsonst tagelang als Rabenmutter gefühlt. Ihr Urlaub fängt in zwei Wochen an, scheint aber aufgrund von Projekten, die gerade Intensivphasen durchlaufen, noch in so weiter Entfernung zu liegen, dass sie sich müde fühlt, so müde.
Lilli legt los - 11. Jul, 10:05
Lilli steht im Zug direkt hinter einen jungen Dame, die mit einem geblümten Sonnenhut und rosa Rüschen bekleidet ist. Ob Kleid oder T-Shirt mit Hose, ist nicht zu erkennen, aber auf allen Seiten fliessen rosa Rüschen aus dem Tragegestell, in dem ihr Papa sie auf dem Rücken trägt. Sämtliche Zugfahrer sitzen so, dass sie nicht anders können, als das rosa Rüschenwunder anzustarren. Dieses zeigt mit einem sehr wurstigen Zeigefinger, der nicht länger als zwei Zentimeter sein kann, nach oben und sagt laut und begeistert: Pla-fond! Pla-fond! Pla-fond! Pla-fond! Schon nach dem zweiten Pla-fond haben sich die Zugfahrer in drei Gruppen geteilt: diejenigen, die die Nase wieder in die Zeitung oder auf ein elektronisches Spielzeug Kommunikationsmittel stecken, diejenigen, die ungerührt weiter geradeaus starren, und diejenigen, die lächeln. So richtig mit Mund und Augen, und zwar alle auf die gleiche, verschmitzte, fast zärtliche Weise, die so normalerweise nicht in der Öffentlichkeit gezeigt wird (wo käme man denn auch hin). Lilli kennt dieses Lächeln, denn auch auf ihrem Gesicht hat es sich breit gemacht. Es ist das Lächeln derer, die sich erinnern, und derer, die wissen.
Lilli legt los - 6. Jul, 04:00
"Heute hab ich den Schrei an", sagt der kleine Strolch stolz und streckt Lilli den linken Fuss entgegen. Lilli wirft fragende Blicke vom Strolchengesicht zum Fuss und wieder zurück zum Gesicht, ohne Verständnis dafür herstellen zu können, wovon der Junge spricht. Erst, als der kleine Strolch mit dem Finger auf die drei Löcher im Strumpf weist, fällt der Groschen. Er hat tatsächlich den
Schrei an.
Lilli legt los - 1. Jul, 04:00
Die Sommerferien haben angefangen, und da kein Mensch hier in Kanada 10 Wochen Urlaub hat, gehen die Kinder mindestens ein paar Wochen in sogenannte Camps. Camps sind Aktivitäten, die von der Stadt oder Vereinen organisiert werden und alles anbieten, was man sich nur vorstellen kann: Reiten, Fechten, Golf spielen, Kochen, Kanu fahren.... und natürlich gibt es auch Camps ausserhalb der Stadt, in denen die Kinder gleich eine ganze Woche lang übernachten.
Lilli hatte keine grossen Probleme, ein Camp für den grossen Strolch zu finden. Der kleine Strolch aber lehnte alles, was sie vorschlug, mit hochgezogener Nase ab. "Basketball? Zirkus? Mangas zeichnen? Tennis?", wollte Lilli wissen, aber der kleine Strolch schüttelte nur mit dem Kopf. "Scrapbooking? Hip Hop? Cheerleading?", aber auch das fand keine Gnade. "Ich warne dich, wenn ich nichts finde, landest du im Camp hier im Park", drohte Lilli im April.
Heute morgen machte Lilli ihre Drohung war und buchte eine Woche Camp im Park: basteln, spielen, singen, Freibad gehen. Nicht gerade die Wucht für einen kleinen Strolch, das war Lilli schon klar.
Kleiner Strolch: "Wie heisst das Camp?"
Lilli: "Magie estivale."
Kleiner Strolch (hoffnungsvoll): "Ein Zaubercamp?"
Lilli: "Nein, mit Zaubern hat es nichts zu tun."
Kleiner Strolch: "Was ist es denn dann?"
Monsieur (hinter dem Bildschirm hervorrufend): "Ein Kinderparkplatz!"
Oh ja, das hilft. Das Messer in der Wunde rumdrehen, das Lilli sich schon selbst in die Brust gestossen hat...
Lilli legt los - 27. Jun, 14:34
Jetzt ist der grosse Strolch mit der Grundschule (Klasse 1 bis 6) fertig. Lang schon hat er auf diesen Tag hingefiebert, denn im Gegensatz zu seiner Mutter findet der grosse Strolch Veränderungen toll und empfängt alles Neue mit ausgebreiteten Armen. Als am letzten Schultag aber die allerletzte Hand geschüttelt (Lehrer, Direktorin, Kernzeitbetreuer, Trainer der Schulmannschaft, Hausmeister), der letzte Freund und sogar alle Klassenkameradinnen umarmt waren - mit Ausnahme von J., versteht sich, denn J. kann der grosse Strolch noch nicht wieder in die Augen sehen -, da wollte der grosse Strolch gar nicht so recht nach Hause. Lilli, die die ganze Zeit über ungeschickt mit den Tränen kämpfte, konnte ihn gut verstehen. Das Bekannte, Bequeme hat auch seinen Reiz, und niemand kann es besser in Worte fassen als Mörike, was sich da auf einem Montrealer Schulhof für knapp 30 Jungs und Mädels abgespielt hat:
Bei jeder Wendung Deiner Lebensbahn,
auch wenn sie glückverheißend sich erweitert
und Du verlierst, um Größeres zu gewinnen.
Betroffen stehst Du plötzlich still, den Blick
gedankenvoll auf das Vergangne heftend.
Die Wehmut lehnt an Deine Schulter sich
und wiederholt in Deine Seele Dir,
wie lieblich alles war, und dass es nun
damit vorbei auf immer sei, auf immer!
Lilli legt los - 25. Jun, 04:00
Seit Samstag abend überlegt Lilli, welches deutsche Adjektiv dem französischen "estomaqué" auch nur annähernd das Wasser reichen kann. Denn wie einen Faustschlag in den Bauch empfand sie die Demonstration eines Freundes, der ja sooooo stolz auf seinen Ipad war und den Strolchen zeigen wollte, was für tolle Bücher es da völlig kostenlos zum Runterladen gibt. Zum Beispiel "Toy Story" von Disney: es sieht aus wie ein richtiges Buch, hat Seiten zum virtuellen Umblättern, aber die Bilder bewegen sich und der TEXT KANN VON EINER FREUNDLICHEN STIMME VORGELESEN WERDEN! So gross kann Lilli gar nicht schreiben, wie sie diese Erfindung grässlich findet. Denn es gibt ja drei Kategorien von Eltern:
Erstens, und das sind die besten: die Eltern, die ihren Kindern gerne vorlesen. Die es gemütlich und wichtig finden, mit einem sabbernden Kind zusammengeklebt auf dem Sofa zu sitzen, gemeinsam die Nase in ein Buch zu stecken und lange darin rumzulesen. Bilder anzusehen, Sachen zu finden und zu benennen, Fragen zu stellen, Farben zu erkennen, Buchstaben nachzufahren, Grössen einzuordnen, über Ängste und Träume zu sprechen und was man nicht noch alles Schönes mit ordinären Bilderbüchern anstellen kann.
Zweitens: die Eltern, die ihren Kindern nicht gerne vorlesen, es aber trotzdem tun, weil sie wissen, wie wichtig es für ihre intellektuelle Entwicklung blablabla.
Drittens: die Eltern, die Bücher und Filme in die gleiche Kategorie tun und gottfroh sind, wenn ihr Sprössling eine halbe Stunde Ruhe gibt. Geschichten für Kinder? Her damit, dann haben wir ein gutes Gewissen, das Kind kommt mit Literatur in Berührung und wir brauchen uns nicht weiter zu kümmern.
Natürlich ist es die zweite Kategorie, die sich vom Ipad einwickeln lassen und das Lesen mit den Kindern nach und nach aufgeben wird. Die erste Kategorie wird das elektronische Bilderbuch schulterzuckend abtun, weiss sie doch, dass Zeit mit den Eltern, Körperwärme und Raum für Diskussionen durch nichts in der Welt zu ersetzen sind. Die dritte Kategorie ist von vornherein verloren und hat schon vor Jahren damit angefangen, das Kind vor Baby Einstein zu setzen, dort kann sich im Prinzip auch durch den Ipad nichts mehr verschlechern. Die zweite Kategorie aber, die Verführbaren, die Schwachen, werden eine Weile hin- und hergerissen sein und sich dann mit ausgestreckten Armen in den Rachen des Löwen stürzen. "Ist doch das Gleiche, ob ich es ihm vorlese oder der Ipad", denken sie sich nach ein paar Wochen des Zögerns erleichtert, legen dem Kind das Ding in den Schoss, stehen vom Sofa auf und fangen an, Wäsche zu falten oder E-Mails zu lesen. Natürlich sind auch das die Eltern, die dem Kind ein Kuscheltier unter den Schoppen legen, damit man es nicht im Arm halten muss... Für diese Kinder der zweiten Kategorie läutet der Ipad ein dunkles Zeitalter ein, ganz egal, wie bewegt und bunt die Bilder auch sein mögen.
Lilli legt los - 22. Jun, 05:00
Der grosse Strolch hat Bauchgrimmen und Liebeskummer. Oder Bauchgrimmen aus Liebeskummer? Jedenfalls hat
J. gestern mit ihm Schluss gemacht, und heute will er nicht in die Schule.
Naja, heute hätten sie sowieso nichts Rechtes mehr gemacht, es sind nur noch vier Tage bis zu den Sommerferien. Also liegt der grosse Strolch auf dem Sofa und liest sich mit Artemis Fowl weg aus dieser Welt.
Lilli legt los - 17. Jun, 14:50
Heute musste Lilli schon um 8 Uhr antreten, und da die Konferenz am anderen Ende von Montréal stattfand, tauchte ihre Mitfahrgelegenheit sage und schreibe um 6 Uhr 30 vor Lillis Haustür auf. Kurz nach 20 Uhr war Lilli dann tatsächlich wieder zu Hause und nicht mehr zu gebrauchen. Aber nein, sie musste noch mal los und Milch kaufen, denn die drei im Haushalt ebenfalls anwesenden Männer waren nicht vom Fernseher wegzukriegen. Zwei davon klebten vor dem Fernseher ("Das siebte Spiel Vancouver-Boston! Mann Lilli!!! Boston führt 1 zu Null!"), der dritte hockte vor dem Computer und wollte wissen, wie man es macht, dass mehr Leute auf seinen Blog kommen...
Lilli legt los - 16. Jun, 05:00
Wenn Lilli freitag abends erst mal auf dem Sofa sitzt, kann kein Strolch sie da so leicht wieder davon hochscheuchen. Und wenn dann der grosse Strolch noch mal runterkommt, während Lilli "ihren" Film guckt, kann es passieren, dass Lilli zu faul ist, um ihn wieder hochzuschicken, und ihn auf dem Sofa duldet, solange er nicht zu laut mit dem Schokoladenpapier raschelt ("Herrgott, die Milka geht an der SCHMALEN Seite auf, ein Rutsch und fertig!!!"). So kam der grosse Strolch in den Genuss von "Juno", und obwohl Lilli den Film auf Englisch guckte, hat er doch einiges davon mitbekommen. Was eigentlich gar nicht so schlecht ist und seinen Kurs neulich über die Pubertät irgendwie ganz gut ergänzt...
"Parenting through laziness" - Lilli wusste ja schon immer, dass sie im Grunde ein Trendsetter ist...
Lilli legt los - 15. Jun, 05:00