Strolche
Als Mutter lernt man Demut spätestens dann, wenn auch das kleinste der eigenen Kinder mühelos mit dem Fahrrad an einem vorbeizieht. Gestern noch musste man das Balg auf der Hüfte rumschleppen, heute ist es mit ein, zwei Tritten in die Pedale so weit voraus, dass man es nur noch als kleinen Punkt am Horizont ausmachen kann… Zum Glück trägt es ein buntes T-Shirt, das bei der Orientierung hilft.
Lilli legt los - 5. Mai, 09:10
Mutter sein heißt, plötzlich ein großes Interesse für bedruckte T-Shirts in Größe 128 zu entwickeln und ein triumphierendes Freudengeheul auszustoßen, wenn man eins findet, das von der Zielgruppe als tragbar empfunden wird, wenn auch kein Totenkopf drauf ist.
Lilli legt los - 4. Mai, 09:50
Wieder ein Zeichen dafür, dass der große Strolch erwachsen wird: gestern entdeckte er plötzlich, wozu Spiegel gut sind. Das heißt, er weiß natürlich schon lange, wie Spiegel funktionieren, er konnte nur keine Notwendigkeit dafür sehen, sich darin zu betrachten. Nun kommt er plötzlich an keinem Spiegel vorbei, ohne sich kritisch zu begutachten und sorgfältig seine Haare aus der Stirn nach oben zu streichen, um cooler auszusehen. Obwohl man hier nicht mehr cool sagt, sondern yo. Die Frage danach, wie die Auserwählte denn heißt, konnte sich Lilli glücklicherweise verkneifen. Sie als Mutter will ja schließlich auch yo sein.
Lilli legt los - 30. Apr, 09:27
Wie ein Dieb schleicht Lilli auf leisen Sohlen durch die Wohnung. In der einen Hand hält sie eine riesige Plastiktüte von Canadian Tire, mit der anderen dreht sie Sofakissen um, hebt auf dem Boden liegende Kisten hoch, blinzelt hinein, zieht Schubladen auf, fährt zwischen Matratzen, lugt unter die Kinderbetten. Nein, sie ist nicht auf der Suche nach der letzten Ausgabe von Elle Québec mit dem Unterwäsche-Special – sie spürt vielmehr den ungeliebten Kuscheltieren auf, die morgen mit in Monsieurs Büro dürfen, um von dort nach Afrika zu fliegen. „Stell Dir nur vor, braunes Rentier mit rot-grün gestreiftem Schal, du fliegst nach Afrika! Ja, du auch, unglücklich proportionierter Elefant, und du, kleiner Clown, der du immer dem kleinen Strolch so viel Angst gemacht hast! Ei, wie wird das lustig! Ihr, die ihr nie verstanden habt, warum gerade ihr nicht im Kinderbett übernachten durftet und nie den Kindergarten von innen gesehen habt, die ihr nie beim Kaffeeklatsch mit Kekskrümeln verschmiert wurdet und keinerlei Spitznamen erhieltet – ihr bekommt nun eine zweite Chance, endlich von einem Kinderherzen adoptiert und so richtig vom Kopf bis zu den Patschefüßen durchgeknuddelt zu werden. Deshalb: seid nicht traurig, dass ihr von hier fortmüsst! Und macht schnell, dass ihr in der Tüte verschwindet, bevor die Strolche aus der Schule kommen!“, zischt Lilli ihnen zu. Denn ein bisschen mulmig ist Lilli bei der ganzen Aktion trotzdem, so sehr sie sich auch einredet, wie viel Sinn das alles macht.
Lilli legt los - 22. Apr, 14:25
... ist für den Schwaben unvorstellbar - wo doch das Fleisch darin so schön versteckt ist, dass man es von "oben" nicht sieht! Lilli hat aber trotzdem dieses Jahr keine Maultaschen gemacht. Auch keine Hasen gebacken und keine Eier gefärbt. War dieses Jahr einfach zeitlich nicht drin, da konnte die Schwäbin in ihr noch so sehr zetern. Und wissen Sie was? Es ist trotzdem Karfreitag geworden, sogar ein sehr schöner dazu, an dem Lilli sich mit den Strolchen im Kunstmuseum die Van Dongen-Ausstellung angesehen hat und hinterher japanisch essen war. Fängt es so an, dass die Traditionen verloren gehen und die Kinder halt- und wurzellos aufwachsen? Dass sie nicht wissen, wo sie kulturell hingehören und später mal spirituell so bedürftig sind, dass sie sich der ersten Sekte in die Arme schmeissen, die ihnen schellenklappernd und tanzend über den Weg läuft? Lilli horcht kurz in sich hinein, kann aber kein schlechtes Gewissen entdecken. Sie strengt sich an, stellt sich vor, wie sie ihrer Mutter erzählt, dass sie "schlampern" war, anstatt deutsches Volkstum im Ausland aufrechtzuerhalten. Immer noch nichts. Nicht das kleinste bisschen Schuldgefühl. Ist vielleicht gerade ausgeflogen oder hat bessere Opfer, die es triezen kann. Na dann - dann ist Lilli ja noch mal davongekommen. Und kann allen ihren Lesern frohe Ostern wünschen!
Lilli legt los - 10. Apr, 17:24
Immer mehr Telefonnummern von Freunden der Strolche werden in Lillis Adressenbuch eingetragen. Da steht dann schief und krumm:
Olivier:
Montag, Mittwoch, Donnerstag und jedes zweite Wochenende: 123-4567 (Mutter)
restliche Zeit: 234-5666 (Vater)
Wenn Lilli so was sieht, weiss sie, warum sie zur Zeit so viel mit Monsieur diskutiert.
Lilli legt los - 2. Apr, 12:44
„Wenn er doch wenigstens jammern würde, dann wüssten wir immerhin, wo es ihm wehtut. Dann könnten wir ihm sogar helfen! Er könnte doch sagen, ich hab Kopfweh, ich krieg kaum Luft, irgendwie bin ich so schlapp! Aber nein, er schweigt nur und guckt vorwurfsvoll, dass wir nicht von allein draufkommen!“, macht Lilli sich Monsieur gegenüber Luft. Denn wenn es dem großen Strolch nicht so besonders gut geht, wird er still und stiller, sackt in sich zusammen, als ob nur noch die Hälfte von ihm da wäre. Lilli, die manchmal einen Löffel Ungeduld zu viel gefrühstückt hat, verwechselt dieses Schweigen, dieses Nicht-Mitmachen, dieses betont-die-Beine-Nachziehen dann gerne mit Aufmüpfigkeit und reagiert gereizt. Worauf der große Strolch sich noch weiter in sein Schneckenhaus zurückzieht und jegliche Kommunikation mit der Aussenwelt auf einen seitlich weggedrehten Blick beschränkt. Bravo, Lilli, genau so geht es, wenn Du Deinen Sohn auf immer vergraulen möchtest – und er ist noch nicht mal so richtig in der Teenager-Rebellionsphase angekommen. Und welchen konstruktiven Kommentar steuert Monsieur dazu bei? „Ja, komisch, dass er das nicht kann. Jammern, mein ich. Dabei hat er so ein schönes Vorbild“, und klappert unschuldig mit den Augen. Frechheit.
Lilli legt los - 26. Mär, 10:30
Die von Lilli in mühevoller Kleinarbeit ausgesuchte Hütte für den Urlaub Anfang März hatte ein großes „Problem“ – sie lag so zwischen unberührten Bergen eingebettet, dass Monsieur keinen Zugriff auf seine E-Mails hatte. Nur auf dem Parkplatz des 12 km entfernten Supermarktes kamen die Dinger angezwitschert, sodass Lilli mit den Strolchen nach erledigtem Einkauf noch in den Drogeriemarkt zog, um ihn in Ruhe darauf antworten zu lassen. Nachdem Lilli und die Strolche lange damit zugebracht hatten, Lillis Haarfarbe unter Zuhilfenahme der Muster-Locken der Haarfärbemittel zu bestimmen (sie waren sich einig, dass es „châtain clair doré“ sein musste, was sich besser anhört als mausblond) und auf alle Kuscheltiere zu drücken, um sie zum Quietschen zu bringen, entdeckte der kleine Strolch eine neue Spielwiese: die Lippenstift- und Lidschattentester, die zu unendlichem Spiel und Spaß einluden und glücklicherweise in einem von der Kasse her uneinsehbaren Gang standen. Ein paar Minuten später schlich Lilli mit „schwer verletzten“ Strolchen an der Kassiererin vorbei ins Freie: der große Strolch hatte ein riesiges blaues Auge geschminkt bekommen, während der kleine Strolch aus der Nase blutete, als wäre er auf dem Eis des Parkplatzes der Länge nach hingeschlagen. So angerichtet klopften sie bei Monsieur ans Autofenster, der vor Schreck den Blackberry auf die matschige Fußmatte fallen ließ.
Ach, warum kann Lilli nur nicht immer so eine lustige Mama sein wie im Urlaub…
Lilli legt los - 19. Mär, 10:28
Der große Strolch muss zur Hepatitis-B-Impfung und zieht die Nummer 714. Kurz darauf wird die Nummer 642 aufgerufen – es sind also gut 70 Leute vor ihm dran. Lilli seufzt und stellt nach einem kurzen Blick auf das Wartezimmer fest, dass es sich hierbei um 70 Mädels handelt, die alle um die 16 sind und an diesem Abend gegen Gebärmutterhalskrebs geimpft werden sollen. Nun hat man selten Gelegenheit, so eine schöne Generationsstudie durchzuführen, bei der Lilli zu dem folgenden Ergebnis kommt:
Erstens haben sie alle lange Haare;
zweitens haben sie alle mehrere T-Shirts übereinander an, von denen es keines schafft, die BH-Träger vollständig zu verdecken;
und drittens haben sie nicht alle einen Busen, aber alle ein Handy.
Der große Strolch sitzt derweil unberührt auf seinem schwarzen Plastiklederstuhl und liest Tobie Lolness. Im Moment noch geht so viel weiblicher Charme ganz unbemerkt an ihm vorüber. In zwei Jahren hätte er sich bestimmt die Jacke ausziehen müssen, so heiß wäre ihm geworden.
Lilli legt los - 18. Mär, 13:54
Seitdem der kleine Strolch nicht mehr mit den Kumpels Hockey spielen will, sitzt er in der Pause allein auf dem Schulhof. Jetzt aber hat er einen neuen Freund gefunden.
Lilli (erfreut): Und, was macht ihr so zusammen?
Der kleine Strolch: Ja, also, wir graben unter dem Schnee nach Eisstücken.
Lilli: Und dann?
Der kleine Strolch: Ja, also, die brechen wir dann ab.
Lilli: Und dann?
Der kleine Strolch: Dann bringen wir sie zur Treppe.
Lilli (neugierig): Und dann?
Der kleine Strolch: Dann bleibt einer stehen und bewacht sie, der andere geht zurück und bringt noch mehr.
Lilli (noch neugieriger): Und dann?
Der kleine Strolch: Dann reiben wir die Eisstücke an den Treppenstufen hin und her.
Lilli (kurz vor dem Platzen): Und DANN?
Der kleine Strolch (kopfschüttelnd, dass man seiner Mutter aber auch alles erklären muss): Das macht dann so Streifen.
Ah ja. Schliesslich hat keiner behauptet, dass das Spielen der Kinder den Eltern einleuchten muss.
Lilli legt los - 16. Mär, 13:02