Strolche
Man geht davon aus, dass die Kinder Lesen und Schreiben in der Schule lernen. Das tun sie auch, früher oder später. Was sie aber nicht unbedingt in der Schule lernen, ist das Bücherlesen. Dafür sind dann schon die Eltern zuständig, und wer das erst einmal verstanden hat, sollte sich dieser Aufgabe mit genauso viel Zeit und Ideenreichtum widmen wie diese jungen Leute mit Kapuzenpulli, die in Montréal an bestimmten Straßenecken stehen und auf ein Codewort hin ein Tütchen mit weißem Pulver aus der Hosentasche ziehen, das sie für viel Geld verschachern. Jawohl, liebe Eltern: wenn Sie wollen, dass Ihr Kind liest, müssen Sie zum Pusher werden, der Ihrem Kind genau den Stoff verschafft, von dem es süchtig wird nach mehr. Lesen ist ja mehr als das Zusammenklauben von Buchstaben, als das Aneinanderreihen von Wörtern zur schnöden Informationsaufnahme, als das Sich-Schlaumachen über Abfahrtszeiten und Sonderangebote. Es ist der Einstieg in eine andere Welt, in der man fliegen oder tauchen kann, in der man schwerelos durch farbige Kreise taumelt, durch Zeit und Raum reist oder die Identität wechselt – jedenfalls in eine Welt, die losgelöst ist vom eigenen Alltag und uns eine Weile alles um uns herum vergessen lässt. Bücher sind demnach das ideale Rauschgift, da sie uns bereichern, anstatt uns auszulaugen, und wenn man erst einmal den Einstieg gefunden hat, wird man (genau wie bei Heroin) nicht mehr die Hände davon lassen können. Manchmal wird uns diese Einstiegsdroge von einem Freund in die Hand gedrückt, manchmal ist es die Bibliothekarin, die uns vor das richtige Regal schiebt, ganz selten nur der Lehrer, der die Sucht in uns entfacht. Die besten Pusher aber sind die Eltern, die sich nur an ihre eigene Kindheit zu erinnern brauchen, um allererste Ware aufzutreiben. So hat Lilli diese Woche für den großen Strolch ein Buch gekauft, das sie als guten Trip in Erinnerung hat: „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende. Leider in einer schnöden französischen Taschenbuchausgabe, in der die rote und grüne Tinte durch Fett- und Magerdruck und der glänzende rote Stoffeinband durch ein kitschiges Foto ersetzt wurde. Der große Strolch, der inzwischen schon ein Kenner ist, hat die Seiten trotzdem freudig durch die Finger gleiten lassen und gierig die Nasenflügel gebläht. Sobald er mit den leidigen "betrüblichen Ereignissen" von Lemony Snicket fertig ist (die Lilli zur Raserei bringen), wird er es sich reinziehen…
Lilli legt los - 29. Mai, 17:53
Der kleine Strolch hat ein neues Wort gelernt – la desserte = der Serviertisch. Weil doch Lilli einen solchen
aus dem Müll gezogen und unter stundenlangen Qualen renoviert hat. Er hat es aber gleich verdreht und spricht jetzt nur noch von „la table des desserts“. Die Vorstellung, diesen Serviertisch mit Nachtisch beladen vor die Nase gerollt zu bekommen, ist aber auch zu verführerisch…
Lilli legt los - 28. Mai, 20:01
…to raise a child, hat damals Frau Clinton gesagt. Oder war es Frau Bush? Jedenfalls mag man über die Frau denken, wie man will – damit hatte sie womöglich sogar recht. Denn nun hat der große Strolch zum 10. Geburtstag ein Deluxe-Süßwasseraquarium mit Filter-, Belüftungs- und Selbstbräunanlage bekommen, das 118 Liter Wasser fasst und soviel Platz in seinem Zimmer beansprucht, dass fast schon das Bett dafür rausfliegen musste. Natürlich wären Lilli und Monsieur NIE IM LEBEN auf die Idee gekommen, ihm so ein Ding zu schenken – sie haben keinerlei Affinität zu Fischigem und sind ausgelastet genug, um nicht auch noch die wöchentliche Reinigung eines Aquariums in ihre Liste der zu erledigenden Aufgaben aufzunehmen. Nein, das Aquarium war ein Geschenk der Taufpaten, die es zwar nicht für nötig hielten, vorher bei den Eltern nachzufragen, ob diese wohl damit einverstanden seien, immerhin aber den Aufbau und die Installation des ganzen Krimskrams mit „lieferten“. (Die Taufpaten wurden ausgesucht, weil sie so grundgute Menschen sind. Gute und gutmeinende Menschen, die aufrecht durchs Leben gehen, das sie mit komplett anders gearteten Beschäftigungen zubringen als Lilli und Monsieur: mit Holzhacken, Straßen bauen und Bergen vermessen zum Beispiel. Und mit dem Aussuchen von Geschenken für einen Strolch, von dem sie meinen, dass ihm unbedingt ein Haustier fehlt…) Und so hat der große Strolch jetzt ein Aquarium, vorerst vier Goldfische und die Verantwortung, sich möglichst lang möglichst gut darum zu kümmern. Und strahlt so sehr über das ganze Gesicht, dass Lilli den Paten zugestehen muss, dass die Idee womöglich gar nicht so schlecht war. Wenn sie sie auch innerlich am liebsten auf den Mond schießen möchte. Mitsamt Aquarium...
Lilli legt los - 26. Mai, 12:44
Der große Strolch kommt wimmernd nach Hause, schmeißt seinen Schulranzen in die Ecke und stößt hervor, was keine Mutter hören will: „Mama, es ist was Schlimmes passiert!“ Ogottogottogott, denkt Lilli panisch und will sofort wissen, was denn nun. „Heute kamen die Antwortbriefe aus Burkina Faso – und meiner war nicht dabei!“ Großer Schluchzer des großen Strolches, Erleichterungsseufzer von Lilli. Es gab also lediglich ein Problem bei der Zustellung des Briefes eines Kindes aus Afrika, das im Rahmen eines Klassenprojekts dem großen Strolch hätte schreiben sollen. Kein Beinbruch, keine Schießerei, kein Erstickungsanfall, keine Entführung direkt aus dem Schulhof. Lilli nimmt den großen Strolch in die Arme und streicht ihm über den Rücken. „Das ist doch nicht schlimm, das ist höchstens eine schlechte Neuigkeit“, versucht sie ihn zu trösten. Und merkt, dass ihre haarspalterische Semantik ihn kein bisschen tröstet. Erst, als er vor einem Glas Milch und einer Zimtschnecke sitzt, sieht die Welt für ihn wieder ein bisschen fröhlicher aus. Und erst, als Lilli abends ins Bett geht, denkt sie noch einmal über die Wortwahl des großen Strolches nach und darüber, dass er eigentlich doch recht damit gehabt hatte. Vielleicht ist ein fehlender Brief für Lilli nicht schlimm – es stimmt ja, dass in ihrer Erwachsenenwelt täglich weit füchterlichere Dinge geschehen -, für den großen Strolch aber war es das passendste Wort, das er finden konnte. Der Schlimmheitsgrad eines Ereignisses ist wohl, genau wie Zeit, Wassertemperatur, die Schönheit von Scarlett Johansson und die Größe einer Tafel Schokolade, subjektiv... und Lilli nimmt sich vor, in Zukunft mit ihren Kindern mehr Einfühlungsvermögen und weniger Semantik zu betreiben.
Lilli legt los - 25. Mai, 13:02
…wird Kieferorthopäde, denkt Lilli so vor sich hin, während sie auf einem weichen weißen Lederstuhl im Wartezimmer sitzt und die vielen Porträtfotos ansieht, die sie von der Wand mit perfekt geraden Zähnen anlächeln. In einer Welt, in der der erste Eindruck von so großer Wichtigkeit ist und Schönheit schneller erfasst werden kann als Intelligenz, kommt man um die Drähte im Mund nicht herum – nicht der große Strolch, der „nur“ normal schiefe Zähne hat, und schon gar nicht der kleine Strolch, dem gleich mehrere zweiten Zähne zu fehlen scheinen. Lilli seufzt und tastet nach ihrem Scheckbuch.
Lilli legt los - 22. Mai, 12:38
Heute zum Beispiel: eine Schüssel voll Cheerios zählen – ZÄHLEN! Damit die Gäste beim Geburtstagsfest des großen Strolches am Samstag raten können, wie viele Cheerios er denn nun täglich zum Frühstück verschlingt. Wer am nächsten dran ist, bekommt eine Tüte Gummibären.
Lilli legt los - 20. Mai, 12:53
Es ist eine Wohltat, seine Kinder einmal in ihrem normalen Schulalltag beobachten zu können – wie sie sich innerhalb der Gruppe verhalten, ob sie wohl von Freunden umringt oder einsam durch den Tag gehen, wie interessiert sie mitmachen und vor allem, wie beruhigend normal sie doch im Vergleich zu ihren Altersgenossen sind. Gibt es Kinder, die noch hampeliger oder unaufmerksamer sind als unsere oder durch ihre blöden Bemerkungen schlichtweg als unangenehm auffallen, ist man doch sehr sehr dankbar für das Exemplar, das der liebe Gott uns in die Arme gelegt hat. Und etwas beschämt, manchmal mit ihnen zu hadern wegen Kleinigkeiten, die – wie wir alle wissen – keinen großen Geist stören.
Lilli weiß auch, dass dieses Gefühl noch tausendmal intensiver ist, wenn man im obigen Experiment „Schule“ mit „Kinderkrankenhaus“ ersetzt.
Lilli legt los - 15. Mai, 10:40
Lillis Lieblingsszene aus der Fernsehserie „Six Feet Under“:
Zwei junge Frauen werfen sich im Streit um einen Mann gegenseitig ihre Fehler vor und werden dabei immer verletzender. Zuletzt spielt Lisa die böseste Anschuldigung aus, die man einer Frau mit Kinderwunsch ins Gesicht werfen kann.
Lisa (triumphierend): „You are not maternal!“ (in etwa: „Du bist keine gute Mutter!“)
Brenda (trotzig): „I am fucking maternal!“ („Ich bin verdammt noch mal eine gute Mutter!“)
Ganz genau. Das sind wir alle. In diesem Sinne – fröhlichen Muttertag allerseits!
Lilli legt los - 8. Mai, 17:13
Der große Strolch kommt weinerlich aus der Schule und gesteht sofort: er hat einen Verweis bekommen. „Was!“, entfährt es Lilli erschrocken, denn der große Strolch ist eigentlich nicht so ein Kind, das andere schlägt, zu Erwachsenen anmaßend ist oder Sachen absichtlich kaputtmacht. „Ich habe Ball gespielt, während ich schon in der Reihe stand, um nach der Pause reinzugehen“, murmelt der große Strolch verzweifelt, schluchzt und drückt sich Lilli an den Bauch. Lilli atmet tief durch. Diese Schule. Vielleicht müssen die Regeln der Schule ja so streng sein, damit die wirklich schlimmen Kinder einander nicht zu Apfelmus hauen. Lilli aber kann hier den Puderzucker-Part spielen und den ganzen Schmerz mit einem „Na, jetzt weißt du, dass du das nicht darfst. Und jetzt sei nicht weiter traurig – ich unterschreib dir deinen Wisch und dann trinken wir Kaffee“ wegwischen. Der große Strolch hebt sein nasses Gesicht zu ihr hoch und riskiert ein dankbares Lächeln. Schon ist man keine Mutter mehr, sondern die gute Fee. Mit Zauberstab und Flügeln.
Lilli legt los - 7. Mai, 09:20
Nichts ist so schwierig, wie das richtige Gleichgewicht zu finden zwischen Liebhaben und Loslassen. Man sagt sich: zu viel von dem Einen bedeutet nicht genug von dem Anderen. Wer zu viel liebt, will zu viel beschützen. Und wer zu früh loslässt, erweckt den Eindruck, nicht genügend zu lieben. Zu viel von Beidem aber geht auch, und es ist genauso schlimm wie zuwenig von Beidem. Bis es einem irgendwann dämmert: es ist genau das Gleiche. Liebhaben bedeutet Loslassen – im richtigen Augenblick jedenfalls. Nur steht der leider in keinem Kalender.
Lilli legt los - 6. Mai, 09:20