Strolche
Lilli begegnet dem kleinen Strolch auf der Toilette. Es ist vier Uhr morgens. Verschlafen sagt der kleine Strolch: „Mama, ich wachse gerade, aber ich werde es allein machen, ok?“
Denn wenn der kleine Strolch Wachstumsschmerzen hat (die komischerweise immer mitten in der Nacht auftauchen), muss man ihm das Bein reiben. Bis er wieder einschläft. Nur heute nacht hat er entschieden, dass er das alleine kann. Da ist er wohl tatsächlich gewachsen...
Lilli legt los - 13. Mär, 09:01
Torte backen und mit Gummibären verzieren. Luftballons aufblasen (dazu hinsetzen, sonst kippt Lilli um). Luftschlagen um die Esstischlampe drapieren, dabei missbilligend die Spinnweben abzupfen. Musik von Crazy Frog raussuchen. Wohnzimmertisch (oh ja, Lilli hat jetzt einen, aber das ist eine andere Geschichte) aus dem Weg schieben. Den Gästen die Jacken, Schals, Mützen, Handschuhe und Schneehosen abnehmen und gleich auf einen Bügel hängen, um Verwechslungen zu vermeiden. Ansteigenden Lärmpegel ignorieren, lächeln. Schreiende tanzende Kinder zu diversen Spielen auffordern und Regeln erklären, die keiner hören will. Crazy Frog singt „Cotton-Eyed Joe“. Die ganze Meute rausschicken zum Hockeyspielen. Ein Gruppenfoto machen, bei dem keiner mittun will. Dem kleinen Strolch ist die Mütze über die Augen gerutscht, zwei andere Jungs ziehen sich an den Ohren. Beim Heimkommen abzählen, ob auch noch alle da sind. Kerzen in die Torte stecken (Creme zu weich, läuft seitlich runter) und anzünden, Lied singen. Lächeln. Den kleinen Strolch davon abbringen, die Kerzen mit der Nase auspusten zu wollen. Milch einschenken, aufwischen, die vergessenen Papierservietten in der Küchenschublade suchen. Alle zum Händewaschen ins Bad schicken („aber Hände weg vom Türrahmen!“). Lächeln! Auf dem Sofa hüpfende Kinder dazu überreden, einzeln ihr Geschenk zu überreichen. Selbst gemalte Glückwunschkarten und mehr oder wenig sorgfältig ausgesuchte Geschenke bewundern, dabei heimlich Rückschlüsse über den Erziehungsstil der Eltern ziehen. Die Tüten mit den Abschiedsgeschenken hervorholen, den abholenden Eltern versichern, dass alles wunderbar gelaufen sei und alle ganz ganz brav waren. Sich endlich erschöpft aufs zerknautschte Sofa fallen lassen, möglichst ohne sich auf einen Luftballon zu setzen. Das Album mit den Fotos von der Geburt des kleinen Strolches hervorholen und sich daran erinnern, wie es war damals, als er vier Wochen zu früh auf die Welt kam und keine fünf Pfund wog. Die Nase so hässlich damals! Und wie er immer geschrien hat die ganze Zeit und rumgetragen werden wollte, pausenlos. Die Tränen abwischen, die plötzlich von nirgendwo her kommen, und sich wundern, dass das schon acht Jahre her sein soll. Und lächeln, was diesmal ganz leicht geht und ganz von selbst – zum ersten Mal an diesem Tag – weil Lilli doch weiß, dass nicht der Strolch derjenige ist, der die meisten Geschenke bekommen hat. Es ist alles in Ordnung, Lilli. Deine Wohnung ist ein Schlachtfeld, dein Trommelfell schwer geschädigt und Crazy Frog nahe daran, aus dem Fenster zu fliegen, aber genau so muss es sein an solch einem Tag. Kindergeburtstag.
Lilli legt los - 11. Mär, 08:46
Auch wenn sich niemand darüber Gedanken machen wollte: nächste Woche fährt Lilli in die hüttigste Hütte, die man sich vorstellen kann. Kanada pur, Schnee pur, Wald pur, Skifahren und Nachtwanderung mit Fackeln pur. Der kleine Strolch hat jetzt schon Angst, vor allem, weil Lilli beim Abendessen laut vor sich hin sinnierte, dass es wohl keine Bären in der Nähe der Hütte geben würde, höchstens ein paar Füchse und den einen oder anderen Wolf. Als Europäer hat man diese Postkartenklischees nun mal in der ADN, was will man machen.
Lilli legt los - 25. Feb, 09:28
„Mami, was macht der Mann da drin?“, fragten die Strolche früher immer, wenn sie ins Hallenbad gingen und an einer Garage vorbeikamen, in der ein Künstler sein Atelier eingerichtet hatte. „Der macht Kunst“, sagte Lilli dann immer lahm, ohne recht erklären zu können, was man darunter versteht. Denn meistens (so konnte man jedenfalls durch die offenstehende Garagentür beobachten) hämmerte der Mann auf einem Gipsblock herum oder schweißte Eisenstangen zusammen, während im Vordergrund Quietsche-Enten und Weinflaschen in einem Planschbecken schwammen und Jazz vom Feinsten lief. „Mami, was ist Kunst?“, fragten die Strolche natürlich unweigerlich, bis Lilli einen ersten und relativ erfolgreichen Besuch im Museum auf die Tagesordnung setzte. Darauf folgten im Lauf der Jahre mehrere andere Besuche in Montréal, Québec und auch in Deutschland, die alle eines miteinander gemeinsam hatten: es handelte sich um relativ gegenständliche Kunst, wenn auch vielleicht mal ein grünes Gesicht dabei war, eine Skulptur aus Schokolade oder ein in der Luft hängender Schredder, der in regelmäßigen Abständen Konfettis auf den Boden regnen ließ. Letzte Woche aber ging es zu den großen bunten Bildern von Claude Tousignant, dem das Musée d’art contemporain in Montréal momentan eine Sonderausstellung widmet. Diese fängt mit Farbflecken an, die schnell von Streifen und zielscheibenartigen konzentrischen Kreisen abgelöst werden, um schließlich in riesige monochrome „Werke“ zu münden, eines davon in unberührtem Weiß. Aber die Strolche gingen mit offenen Augen und Herzen von Saal zu Saal, bewunderten, begutachteten – und lachten auch manchmal, wenn der große Strolche meinte, dass er dieses oder jenes Werk auch vollbringen könne, wenn Lilli ihm nur einen genügend großen Farbeimer zur Verfügung stellen würde. Als sie später bei Kaffee und Kuchen saßen, stellte Lilli mutig die Frage, mit der ihre Museumsbesuche vor ein paar Jahren angefangen hatten: „Wißt Ihr jetzt, was Kunst ist?“ Wie immer hatte der kleine Strolch eine Antwort parat. „Kunst ist cool“, meinte er lakonisch. Und Lilli dachte bei sich, dass das nicht die schlechteste Definition sei.
Lilli legt los - 23. Feb, 09:51
Nämlich Mütter, die richtig gerne voll berufstätig sind und nicht verstehen, warum andere Frauen die Doppelexistenz als solches Dilemma empfinden. Hier ein Beispiel:
Lilli: Das Blödeste daran, in der Stadt zu arbeiten, war ja, dass ich auf dem Heimweg glatt eine Stunde in Metro und Bus zugebracht habe. Was für eine Zeitverschwendung… (schüttelt missbilligend den Kopf).
Freundin: Warum bist du nicht mit dem Zug gefahren, der braucht nur eine Viertelstunde.
Lilli: Der Zug fährt erst um 5. Und ich wollte doch um 4 zu Hause sein, wenn die Kinder aus der Schule kommen.
Freundin: Aber die hätten doch nach der Schule in die Kernzeitbetreuung gehen können. Dann hättest du länger arbeiten UND den Zug nehmen können.
Lilli: Ja, schon, aber ich WOLLTE doch um 4 zu Hause sein.
Freundin zuckt die Achseln, was soviel heißt wie: selber schuld.
Lilli legt los - 17. Feb, 09:58
Manchmal hätte Lilli wirklich gerne eine Gebrauchsanweisung, in der genau drinsteht, wie man am besten auf Kindersorgen reagiert…
Der kleine Strolch liegt im Bett und weint bittere Tränen.
Lilli: Was ist los, kleiner Strolch?
Kleiner Strolch (zögernd): Ach, ich habe meinen Frosch so lieb.
Lilli: Und warum bist du traurig?
Kleiner Strolch: Wenn ich sterbe, werde ich nicht mehr mit ihm zusammen sein können. Dann wird er allein sein und ich auch…
Es geht um einen Plüschfrosch, wohlgemerkt.
Lilli legt los - 12. Feb, 09:58
Nähert man sich dem großen Strolch mit einem Wattestäbchen, um nach dem Baden seine Ohren sauber zu machen, dreht er den Kopf so misstrauisch weg, als hielte man einen Angelhaken in der Hand. Der kleine Strolch dagegen sagt „Oh, ah, mmmmh“ und hält genüsslich still, um voll und ganz auszukosten, was da soviel Vergnügen bereitet. Lilli wusste ja, dass es Leute gibt, deren erogene Zonen im Ohr liegen, aber dass sich das so direkt von einer Generation auf die nächste vererbt, war ihr neu.
Lilli legt los - 30. Jan, 09:23
Große Präsentation des kleinen Strolches in der Schule zum Thema „Vergangenheit“. Die von ihm vorgestellte Weihnachtspyramide (von Lilli brav in die Schule geschleppt, zusammengebaut und angezündet) und deren reich illustrierte Entstehungsgeschichte (tiefe Bergwerke mit Silberminen, mittelalterliche Furcht vor der Dunkelheit, Erfolgszug der billigen Paraffinkerzen, Popularisierung der ägyptischen Pyramiden durch Napoleons Feldzug) begeistern das 7-jährige Publikum rückhaltlos. Nie hätte der kleine Strolch sich träumen lassen, dass es so „yo“ ist, eine deutsche Mutter zu haben… Zum Glück haben wir noch eine Weile, bis in Geschichte dann der zweite Weltkrieg ausbricht.
Lilli legt los - 26. Jan, 09:11
Woran merkt man, dass ein Kind nicht mehr nur Kind ist, sondern zur Schwelle in ein anderes Alter steht? Daran, dass ihm Haare an den Beinen wachsen? Oder dass seine Muskeln größer werden als die Klumpen in unserer Béchamelsauce? Beides richtig. Man merkt es aber auch an seinem Humor, der sich vom elementaren Pipi-Kacka-Furz auf ein höheres - und gar selbstreflektierendes - Niveau erhebt. So fragte Lilli heute morgen, als sich Minuten nach dem vermeintlichen Aufwecken rein gar nichts im Zimmer des großen Strolches bewegte: „He, großer Strolch, bist du wach?“ Und als Antwort kam: „So halb“. Das, liebe Lilli, ist schon ein sehr großes Kind, das du da hast... Bald schon wird er ein Tattoo wollen, ein Moped und deine Lederjacke.
Lilli legt los - 21. Jan, 09:49
Ein Spiel hielt Lilli und Compagnie über Weihnachten in Atem: Telepathie heißt es und verlangt von den Spielern, die sich in Zweierteams zusammenschließen, unabhängig voneinander zu einem Begriff oder Bild mehrere Assoziationswörter aufzuschreiben. Stimmen diese im anschließenden Vergleich überein, bekommt das Team Punkte und darf auf dem Spielbrett weiterziehen. Der Sinn des Spieles ist einfach: je besser die Spieler erraten, was der andere denkt, wenn er einen Hund sieht, umso erfolgreicher ist das Team. Nebenbei bekommt man ganz umsonst tiefe Einblicke in das Seelenleben und die Weltanschauung der Mitspieler, die sie sonst nur dem Psychiater auf der Couch preisgeben würden. Zum Begriff „Mädchen“ zum Beispiel fällt dem kleinen Strolch „Haare“ ein, „kompliziert“ und „plappern“. Seinem 17-jährigen Vetter dagegen „Fön“ und „Klamotten“. Einen Punkt für ein gemeinsames Wort bekommen sie aber doch noch, für „Mund“. Ja, ja, die alten Stereotypen gibt es immer noch. Nur „Busen“ hat sich wahrscheinlich keiner getraut zu schreiben.
(Beim Wort „lustig“ fiel dem kleinen Strolch übrigens „Papa“ ein, was Monsieur und Lilli mit einem erleichterten Augenzwinkern registriert haben.)
Lilli legt los - 19. Jan, 18:28