Mittwoch, 26. November 2008

Leben auf dem Eis

Wenn man den großen Strolch fragt, welcher Religion er angehört, sagt er „Eishockey“, und damit liegt er gar nicht so falsch. Eishockey ist (zumindest hier) mehr als nur ein Sport: es ist ein hauptsächlich männlicher Mikrokosmos mit einem umfangreichen Regelwerk, feierlichen Ritualen und Gesängen, vielen Idolen, einer eigenen Sprache und, ja, auch einem ganz eigenen Geruch, der aus den sargähnlichen Sporttaschen steigt, wie sehr man die verschiedenen Teile der Ausrüstung auch lüftet. Eishockeytraining fängt mit vier oder fünf Jahren an und findet mit Vorliebe Samstag- und Sonntagmorgens um 6 Uhr 45 statt. Immer gibt es zu viele Kinder, die Torwart sein möchten. Wer Torwart ist, muss sich von seinen Eltern im Liegen anziehen lassen, denn nur so kann man die Beinschützer richtig festbinden. Viele berühmte Eishockeyspieler waren Torwart, darunter auch einer, dessen Markenzeichen darin bestand, dass er sich während des Spiels mit seinen Pfosten unterhielt. Torwarte haben eine ganz besondere Art, sich auf dem Eis zu bewegen, was natürlich damit zusammenhängt, dass sie fast unter ihrer Ausrüstung zusammenbrechen, aber auch damit, dass sie das Eis vor ihrem Tor aufkratzen müssen, um bei anschließenden Seitwärtsbewegungen während des Spiels nicht bis an die Bande wegzurutschen. Ist erst einmal entschieden, wer Torwart sein darf, teilen sich die anderen in Angreifer und Verteidiger auf, wobei die Persönlichkeit des Kindes meist schon darauf weist, ob er wohl eher vorne oder eher hinten spielt. Der große Strolch z.B. würde einen guten Verteidiger abgeben, will aber lieber Angreifer spielen, weil in seinen Augen nur der, der ein Tor schießt, ein Held werden kann. Dieses Jahr hatte der Trainer ein Einsehen und stellt ihn ganz vorne auf, obwohl ihm dazu eigentlich die nötige Aggressivität fehlt – er ist halt ein liebes Kind... und somit einer der schwächsten Angreifer seiner Mannschaft. Nun gibt es zwei Möglichkeiten, das zu interpretieren: entweder ist es ein schlechtes Omen für sein späteres Leben, weil er nach etwas strebt, was seinem Wesen nicht entspricht, und damit nur unglücklich werden kann. Oder es ist ganz gut, dass er hier auf dem Eis etwas ausleben kann, was wohl in ihm steckt – damit er dann später im Leben nicht einer unerfüllten Sehnsucht hinterherläuft und sich dabei womöglich auf allerlei falsche Fährten begibt, ohne so recht zu verstehen, warum er keinen Erfolg damit hat… Und so gern Lilli darüber auch nachdenkt und den großen Strolch zu analysieren versucht: sie kann weder voraussehen noch steuern, wie er sich sein Leben einmal einrichten wird. Sie kann nur hoffen, dass er dabei so glücklich wird wie an dem Tag, an dem er sein erstes Tor schießen wird…

Dienstag, 25. November 2008

Zupacken!

Achtung: Wenn man sein Kind in den Arm nimmt und dessen Nase an unser Brustbein stößt, ist es wahrscheinlich bald alt genug, um sich nicht mehr in den Arm nehmen lassen zu wollen. Da heißt es Festhalten, so lange es noch geht!

Montag, 24. November 2008

Kleine Vergehen...

Am Freitag haben Lilli und Monsieur sich frei genommen, um sich nördlich von Montréal in einem Wellness-Center die Seele durchkneten zu lassen, während die Strolche in der Schule waren und anschließend bei den Nachbarskindern Abendessen durften. Auf dem Programm: Massage, Dampfbad, Sauna, beheizter Whirlpool im Freien, dazwischen Abkühlung im ganz schön schnell fließenden Fluss. An dem Seil, an dem man sich festhalten sollte, um ins tiefe Wasser vorzudringen, hingen Eiszapfen, an Lilli und Monsieur nach 30 Sekunden im Fluss auch. Danach Essen im schnuckeligen Lokal, Rückkehr nach Hause gegen 20 Uhr. Und was wartete dort auf die Turteltäubchen? Vier Nachrichten auf dem Anrufbeantworter und ebenso viele auf Monsieurs Blackberry, den er auf Lillis Forderung hin brav zuhause gelassen hatte. Der große Strolch war in der Schule vom Klettergerüst gefallen und hatte sich den Hinterkopf so aufgeschlagen, dass die Nachbarin ihn ins Krankenhaus fahren musste, um die Wunde mit vier Stichen nähen zu lassen. Währenddessen kümmerte sich ihr Mann um die verbleibenden drei Kinder und verbrachte vergnügte Stunden damit, in der Autowerkstatt mit ihnen „Ich sehe was, was du nicht siehst“ zu spielen, während seine Winterreifen montiert wurden. Sagen wir mal so: Die teuer gekaufte Entspannung war schneller futsch, als man „Mist Mist Mist verdammter“ sagen konnte.

Freitag, 21. November 2008

Ich schenk Dir was

Manchmal nehmen Freunde den großen Strolch zu irgendeiner Aktivität mit, zu der Lilli keinen so rechten Zugang hat, z. B. zu La Ronde, einem Vergnügungspark auf einer Insel im Sankt-Lorenz-Strom, wo man sich für viel Geld verschaukeln lassen kann, bis einem schlecht wird. Und manchmal nimmt Lilli den Sohn der Freunde mit, um ihm eine Welt zu offenbaren, in die seine Eltern keine zehn Pferde bringen würde. So war Lilli mit drei kleinen (und doch schon so großen) Jungs diese Woche im Theater, um „Nebbia“ zu sehen, ein Gemisch aus Zirkusvorstellung und Theaterstück. Kein Kindertheater im Gemeindesaal der Kirche, in dem Reihen von Klappstühlen aufgestellt sind, und auch kein Stück speziell für Kinder, sondern ein richtiger großer Saal in Montréal, mit Balkon, roten Plüschsesseln und einem Vorhang mit dicken Falten. Der Junge saß mit aufgerissenen Augen ganz vorn auf seinem Sessel und sog das Geschehen auf der Bühne in sich ein, als hätte er einen eigens dafür gemachten Strohhalm. Eine tiefe Verwunderung erfüllte Lilli da plötzlich, dass das Leben manchmal so ist, dass es einen unvermutet etwas schenken lässt, was sowohl den Beschenkten als auch den Schenker sehr bereichert.

Donnerstag, 20. November 2008

Pirouette statt Spagat

Spagat hat sie keinen gemacht, die Lehrerin, sondern die Schuld ganz elegant auf die Aushilfe geschoben, die seit September zwei Tage die Woche da war und „einen anderen Unterrichtsstil hatte als ich“. Jetzt ist aber eine neue Aushilfe da, die demnächst so richtig aufräumen wird mit der Schluderei und dem Geschwatze. Schule – eine Maschine, die morgens unsere Kinder schluckt, sie tagsüber langsam durchkaut und nachmittags mehr oder weniger verdaut beleckt wieder ausspuckt. Obwohl die Kinder viel davon erzählen, was darin passiert, bleiben die genauen Vorgänge in den Klassenzimmern für Eltern doch unerschließbar.

Mittwoch, 19. November 2008

Wo Du hingehst...

Monsieur: Könntest Du Dir vorstellen, nach Saint-Jean umzuziehen?
Lilli: Saint-Jean-sur-Richelieu (unweit von Montréal) oder Saint-Jean in New Brunswick?
Monsieur : Saint-Jean, Neufundland.
Lilli : Holy Shit.

Heute nacht hat Lilli unwahrscheinlich schlecht geschlafen.

Dienstag, 18. November 2008

Eindeutig zweideutig

Der kleine Strolch hat seine erste Beurteilung (Zeugnis kann man das nicht nennen, sonst müssten ja Noten drinstehen) bekommen: ob es sich nun um die Kategorie „Texte lesen und Fragen nach dem Inhalt korrekt beantworten“ oder „mathematische Zusammenhänge verstehen und mit Symbolen wiedergeben“ handelt, hat seine Lehrerin die Beurteilung „der Schüler macht die vorhergesehenen Fortschritte“ angekreuzt. Uff, welche Erleichterung. Als Lilli allerdings seine Arbeitsproben durchblättert, fallen ihr fast die Augen aus dem Kopf: hingeschluderte Zeichnungen, dreimal wegradierte Lösungsansätze, falsch verstandene Fragen, nicht zu Ende geführte Aufgaben. Dafür hätte es mindestens ein „der Schüler hat Schwierigkeiten, dem Stoff zu folgen“ geben müssen, wenn nicht sogar ein „der Schüler ist entweder faul oder strohdumm“. Jetzt wartet Lilli gespannt darauf, wie die Lehrerin diesen Widerspruch bei der morgigen Besprechung erklären wird. Einen Spagat wird sie dafür schon hinlegen müssen.

Montag, 17. November 2008

Scharf

Lilli übersetzt einen Text, in dem es um Schnittverletzungen im Betrieb geht und um allerlei Schneidewerkzeuge, die diese verursachen – Messer, Skalpelle, Cutter und Scheren. Sie muss einiges an Nachforschungen anstellen, um die genauen Bezeichnungen zu finden, denn da gibt es nicht nur Messer mit manuell einziehbarer Klinge und solche, bei denen die Klinge automatisch zurückschnappt, sobald sich kein Druck mehr auf ihr befindet, sondern sogar intelligente Messer, die die Klinge automatisch zurückziehen, wenn man z. B. vom Karton abrutscht und sich der Oberschenkel gleich daneben befindet. Lilli lernt, dass es nicht nur stichfeste Handschuhe zum Durchsuchen von Drogendealerwohnungen gibt, sondern auch Stechschutzschürzen (für Fleischer), damit nicht aus Versehen ein Schnitt in Bauch oder Herz landet. Und dass sie dieses ganze Thema aus ihr unerklärlichen, weil wahrscheinlich tief vergrabenen und dunkel verdrängten Gründen fasziniert… Da sage noch jemand, Übersetzen sei langweilig!

Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

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