Manchmal bin ich es leid, immer das erzieherische Vorbild sein zu müssen. Zum Beispiel, wenn die Strolche am morgens hektisch in die Küche geflitzt kommen und mir ein Heft zur Unterschrift hinhalten, während sie mit der anderen Hand versuchen, sich den zweiten Strumpf anzuziehen. Und ich mich dann sagen höre, dass ich morgens nichts unterschreibe, weil ich mir das zu Unterschreibende gerne in Ruhe durchlesen möchte und dazu nun mal in all der morgendlichen Hektik keine Zeit ist. Dann ziehen sie murrend wieder ab und finden ihre Mutter blöd.
Aber irgendeiner muss ja schließlich die Mutter sein. Ich frage mich nur, ob ich irgendwann auch einfach ihre Freundin sein kann. Bevor ich dann zum lästigen Sonntagnachmittag-Pflichtbesuch werde, versteht sich. Also so ein kleines Zeitfenster wünsche ich mir, in dem ich dann meinen Kindern von Mensch zu Mensch gegenüberstehe und mit ihnen lache, diskutiere oder einfach nur ins Kino gehe, ohne mir dabei Gedanken machen zu müssen, ob sie das nun fürs Leben prägt oder nicht.
Lilli legt los - 14. Nov, 12:34
Beim kleinen Strolch kann man nie vorsichtig genug sein, und jahrelange Erfahrung hat Lilli gelehrt, dass kein noch so harmlos wirkendes Detail unterschätzt werden darf. Das neueste Beispiel: der kleine Strolch kramt in der Küchenschublade herum, bis er den garantiert wasserfesten schwarzen Filzstift findet, mit dem Lilli ihre Tiefkühldosen beschriftet. Dann zieht er damit in Richtung Wohnzimmer ab. Lilli wirft sich ihm auf der Türschwelle entgegen und stellt ihn zur Rede: „Kleiner Strolch, was hast du nur mit dem Filzstift vor?“ Antwort: „Ich will den Ball auf das große Fenster werfen und male mir dafür eine Zielscheibe auf den Vorhang.“ Als ob es das Selbstverständlichste der Welt wäre…
Dieses Kind wird es noch einmal weit bringen.
Lilli legt los - 13. Nov, 10:36
Guter Ratschlag von
http://cubicwaterdrop.twoday.net/ - eine Liste anlegen mit Dingen, die Lilli an Monsieur schätzt. Um sich in schwierigen Momenten in Erinnerung zu rufen, warum man damals eigentlich meinte, den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Aber solche Listen sind nun mal zweidimensional und haben mit dem richtigen Leben so viel zu tun wie ein Einkaufszettel mit dem, was tatsächlich auf dem Band an der Kasse liegt. Die eigentliche Beziehung geht viel viel tiefer und basiert auf Unaussprechlichem, Unmessbarem, Unfassbarem. Und so muss das auch sein, wenn sie ein Leben lang halten soll. Da geht es um Chemie, um Magnetismus und um andere geheime Kräfte. Das Herz ist ein richtiger Hexenkessel, das ist es.
Lilli legt los - 12. Nov, 10:38
Heute läuft nix. Aber auch gar nix. Heute würde Lilli am liebsten Monsieurs Koffer packen und vor die Tür stellen, damit er heute abend gar nicht mehr reinzukommen braucht. Aber im Moment zittern ihr die Hände zu sehr dafür.
Lilli legt los - 11. Nov, 08:40
Lilli trifft sich mit einer Freundin zum Mittagessen, die aus ihrem reichen persönlichen Erfahrungsschatz schöpft, um Lilli ein paar Tipps zu geben, wie sie mit Monsieur am besten umgehen sollte (ihn hegen und pflegen oder lieber gleich doch erwürgen?). Etwas hilflos bringt Lilli Beispiele von Situationen an, bei denen leichter Groll in ihr aufsteigt: z.B. Samstag vormittags, wenn sich Monsieur nach dem Frühstück wieder hinlegt und sie nicht weiß, wie sie es gleichzeitig zum Karatekurs des kleinen Strolches und in den Supermarkt schaffen soll. „Wenn er Krebs hätte, würdest Du ihm dann vorwerfen, dass er im Bett liegt?“ Hm. Und wenn er die Strolche abwimmelt, die zu ihm ans Bett kommen, um ihm das letzte Diktat oder das neueste Bild (zwei Punkstrolche, die in einer Band spielen – der große Punk haut eine elektrische Gitarre auf den Boden, der kleine Strolch verschwindet fast hinter einem fünfteiligen Schlagzeug) zu zeigen? „Stell Dir einfach vor, er hätte grauen Star. Das kann man zwar operieren, aber bis dahin kann er einfach nichts sehen. Er kann es einfach nicht.“ Lillis Freundin muss wissen, wovon sie redet, sie war schliesslich selbst einmal in Depri-Land. Also Krebs und grauer Star… dann ist Monsieur ja wirklich krank. „Aber zum Glück eine Art von Krebs, die gut wieder abheilt.“ Komischerweise ertappt sich Lilli dabei, wie sie sich wünscht, dass eine Depression zumindest einen Hautausschlag auslösen würde – rote Pünktchen, grüne Blattern oder wenigstens kleine lila Blümchen am Bauch. Wenn sie es SEHEN könnte, könnte sie wahrscheinlich leichter damit umgehen.
Lilli legt los - 10. Nov, 09:39
Am Mittwoch abend kramte Lilli ihre Lederjacke und die hohen Stiefel raus und verkleidete sich als urbane Konzertgängerin: für die kanadische Sängerin Leslie Feist, deren Musik Lilli zwar nicht einordnen könnte, sie aber mit ihren leicht dissonanten Harmonien und dieser Stimme – dieser schönen, starken und zugleich verletzlichen Stimme! – über den Haufen rennt, überschwemmt, umgarnt, mitzieht und am Ende des Abends ausgelaugt und zugleich erfüllt mit neuem inneren Frieden wieder ausspuckt. Faszinierend, wie Feist sich zu Beginn mehrerer Lieder selbst aufnimmt und anschließend auf diese Harmonien die eigentliche Melodie singt, dazu Gitarre spielt oder Klavier, während mehrere Leute um sie herum damit beschäftigt sind, ihre weißen Knöpfstiefelchen zu filmen (unter deren Absätzen Zettel mit der Aufschrift „Zut!“ und „Alors“ klebten) oder poetische Schattenspiele an die Wand zu werfen. Danach gingen Lilli und Monsieur ins Newtown, um dort noch einen Happen zu essen, und fielen fast vom Barhocker, als plötzlich Jacques Villeneuve in voller Größe (ziemlich klein übrigens) vor ihnen stand. Genau der Jacques Villeneuve, der eine Zeitlang als Formel 1-Fahrer Erfolg hatte, bevor er ganz lange keinen Erfolg mehr damit hatte und inzwischen auf andere Rennen, das Führen eines Restaurants (Newtown = Villeneuve) und das Musikmachen umgestiegen ist. Ohne die Augen vom Boden zu heben, ging er an Lilli und Monsieur vorbei ins Freie und ließ Monsieur nicht einmal die winzigste Chance, auch nur Hallo zu sagen - wohl eher aus Schüchternheit als aus Arroganz. Draußen warf er seine Gitarre auf den Rücksitz eines weißen Audis („hätte mich auch gewundert, wenn er BMW gefahren wäre“, meinte Monsieur noch) und fuhr davon wie jeder normal Sterbliche. Lilli und Monsieur schauten sich an: alles in allem war es ein beeindruckender Abend gewesen.
Lilli legt los - 7. Nov, 08:57
Eltern machen gerne Kinderphotos. Also Photos von den eigenen Kindern, nicht von Kindern allgemein, Kindern in Entwicklungsländern oder etwa den ungezogenen Sprösslingen der Nachbarn, denen immer die Nase läuft. Nein, sie photographieren ausschließlich die eigene Brut und können davon nicht genug kriegen. Sie kleben die Bilder in Alben, hängen sie gerahmt an die Küchenwand, stellen sie auf den Schreibtisch oder tapezieren den Treppenaufgang damit. UND DAMIT SOLLTE ES GENUG SEIN. Solange die Photos das eigene Haus nicht verlassen, ist alles genehmigt. Für diese Manie aber, mit Photos auch Alltagsgegenstände wie Kaffeetassen und Kalender zu schmücken und diese dann zu verschenken, fehlt Lilli jedes Verständnis. Im Fitnessstudio z. B. sieht Lilli regelmäßig einen Opa, der gleich vier Babyphotos auf dem T-Shirt durchschwitzt, hat sich aber noch nicht nah genug herangetraut, um herauszufinden, ob es sich hierbei um vier verschiedene Enkel oder Variationen des gleichen Bengels handelt. Und eine frühere Kollegin von Lilli war tief beleidigt, als ihre Mutter ihr schonend beibrachte, dass sie nun genug Bilderrahmen hätte und keine neuen mehr bräuchte. „Aber nicht die Bilderrahmen sind doch das Geschenk, sondern die Photos darin!“, erwiderte die Kollegin entrüstet. Monsieur hat nur ein Wort dafür: aufdringlich. Deshalb sitzt Lilli jetzt auch etwas beschämt vor dem Serviertablett, das sie am Wochenende noch so originell fand, dass sie es auf der Stelle kaufen musste. Unter seiner Glasfläche befindet sich ein Passepartout, in das man sechs Photos stecken kann, und wenn man es etwas künstlerisch anstellt und die Bilder vielleicht in Schwarz/Weiß ausdruckt oder in Sepia, ist das Ergebnis bestimmt so entzückend, dass Oma und Opa in Deutschland einfach nicht anders können, als begeistert in die Luft zu springen… Ja, ja, Lilli ist schwach, ganz schwach. Sie weiß es selbst und lässt den Kopf entmutigt auf die Tastatur sinkenehgufyduitkdhtfjnbjfbvughriuhfjgjffdkghi.
Lilli legt los - 6. Nov, 10:56
Wer mit einem depressiven Menschen zusammenlebt, riskiert natürlich, sich anzustecken und die gleiche negative Haltung (nichts ist mehr wichtig, alles ist ausweglos) an den Tag zu legen. Oder die eigenen Probleme oder Fragen und sogar die kleinen Genüsse des Alltags im Vergleich zu dem dunklen Loch, in dem der Andere vor sich hin leidet, in einem – ja, wie soll man sagen – schäbigeren Licht sieht. So freut sich Lilli zwar an der Freude des kleinen Strolches, als der sein von ihr zusammengestoppeltes Halloweenkostüm anprobiert, ist sich aber gleichzeitig (mehr als sonst) darüber im Klaren, wie vergänglich dieser kleine Freudefunken doch ist. Sie genießt ihre Lieblingsfernsehsendung und sagt sich doch, dass sie nur fernsieht, weil es eine Ausflucht aus ihrem eigenen Leben ist, eine kleine Ruheinsel im Meer ihres traurigen momentanen Daseins. „Achtung, Achtung“, gehen zum Glück da die Warnlampen an, denn noch weiß Lilli ganz genau, dass diese Verschiebung der Perspektive auf Monsieurs Depression zurückzuführen und hochgradig ungesund ist. Noch weiß sie, dass sie recht hat, sich zu freuen, und es eben eine Frage der Zeit ist, bis Monsieur wieder genauso weit sein wird. Bis dahin ist sie irgendwie auf sich gestellt und findet Trost in ganz absurden Dingen wie der feuchten Wärme der Spülmaschine, die ihr beim Ausräumen entgegenschlägt, und der vollkommenen runden Form ihrer Teetasse, die sie beim Fernsehen in den Händen hin und her dreht.
Lilli legt los - 5. Nov, 09:15