Der kleine Strolch, der jetzt in die dritte Klasse geht, hat natürlich "
sie" als Klassenlehrerin bekommen. Nach zwei Wochen Warmlaufzeit, in denen noch das eine oder andere Lob über ihre Lippen kam, lässt sie jetzt schon einmal etwas knappere Kommentare hören. "Wann fängst du wohl an, die Aufgabe zu bearbeiten? Am Nimmerleinstag?", fragte sie kürzlich einen Mitschüler giftig, der bis zu den Ohren rot anlief und die Nase in sein Heft vergrub. Lilli wundert sich, wo diese Frau wohl vor vierzig Jahren Pädagogik studiert hat. Und dass damals noch "Sarkasmus" als wertvolles Hilfsmittel zur Erweckung schülerischer Lernbegierigkeit in den Büchern gestanden haben muss...
Lilli legt los - 13. Sep, 15:56
Das folgenreichste Geräusch dieses Sommers ertönte an einem Freitagabend kurz nach 23 Uhr. „Kabumm“, machte es, als Monsieur vom Fahrrad fiel, „krack“, als er sich die linke Hand brach und „krzkrzzzz“, als seine rechte Gesichtshälfte beim schleifenden Kontakt mit dem Asphalt großflächig aufgeschürft wurde. Anschließend verbrachte er die Nacht im Krankenhaus, wo er an verschiedenen Stellen durchleuchtet, verbunden und vergipst wurde, und die nächsten vier Wochen damit, den Unfallhergang mindestens fünfmal am Tag in immer leuchtenderen Farben zu schildern. Dies machte er so genüsslich, dass er Lilli letztendlich gehörig damit auf die Nerven ging. „Stell dir vor, er hätte die Kinder kriegen müssen“, erwiderte eine Freundin lakonisch auf Lillis Beschwerde, dass Monsieur sich mit diesem idiotischen Sturz ins Rampenlicht drängelte. Lilli stellte es sich kurz vor und nickte beeindruckt. Mit dem Bericht über die Entbindung des kleinen Strolches wäre er jetzt noch nicht fertig…
Lilli legt los - 10. Sep, 10:42
wie man schreibt? Der große Strolch ist jetzt in der fünften Klasse und soll nicht etwa einen Aufsatz über seine schönsten Ferienerlebnisse verfassen (so richtig, wie Lilli das früher gelernt hat, mit einer Einleitung, Absätzen, womöglich einem Höhepunkt und einem Schluss), denn das wäre ja langweilig und hinterwäldlerisch. Dabei hätten er und die meisten Mitschüler seiner Klasse es durchaus nötig, die fehlerfreie Produktion von kompletten, sich elegant aneinander anfügenden Sätzen zu üben, denn schon das Unterschreiben einer Bedanke-mich-Karte für den Fußballtrainer ging vor kurzem nicht ohne zum Himmel schreiende Fehler vonstatten. Nein, stattdessen soll er eine Powerpoint-Präsentation machen, die visuell ansprechend, sprachlich aber auf einem Minimum gehalten werden soll. Nur Bildunterschriften, keine ganzen Sätze! Wer es wagt, ein Verb zu konjugieren, bekommt Abzug! Lilli kann gar nicht die Augenbrauen weit genug nach oben ziehen, so abartig findet sie diese Hausaufgabe. „Habt ihr denn schon gelernt, wie man Powerpoint benutzt?“, fragt sie argwöhnisch. „Nein“, antwortet der große Strolch fröhlich, „das musst du mir zeigen.“ Lilli kommt sich ausgenutzt vor und nimmt sich vor, dieser Lehrerin demnächst einmal diskret zu verstehen zu geben, dass sie nicht vorhat, ihr den Job wegzunehmen. Dann aber macht sie gute Miene zum bösen Spiel und setzt sich mit dem Strolch vor den Bildschirm. Und hat letztendlich so viel Spaß an diesem Projekt, dass sie es direkt bedauert, bei der Präsentation in der Schule nicht dabei sein zu dürfen…
Lilli legt los - 9. Sep, 15:36
Lilli schlottert innerlich vor Angst. Morgen hat sie ihren ersten Arbeitstag bei der
Stelle, für die sie sich kurz vor ihrer Abreise im Juni vorstellen musste. Sie ist heilfroh, den Job bekommen zu haben, der nicht nur interessante Aufgaben verspricht, sondern auch auf – man höre und staune – zwei Tage pro Woche angelegt ist. Lilli kommt sich vor wie der einzige Mensch auf der Welt, der in der Lage sein wird, ein echtes Gleichgewicht zwischen Beruf und Familie zustande zu bringen – die sogenannte „work life balance“, über die sie schon viel übersetzt, die sie aber noch selten im richtigen Leben angetroffen hat. Alle ihre Freundinnen beglückwünschen sie dafür, manche sind auch richtig neidisch auf sie. Jetzt hat sie nur ein Problem: kann man sich am ersten Arbeitstag mit grünlackierten Fußnägeln sehen lassen oder sollte sie lieber doch auf etwas Dezenteres umsteigen? Perlweiß vielleicht? Wenn man so lange vom Arbeitsmarkt weg war, findet man sich in solchen Fragen doch etwas eingerostet…
Lilli legt los - 7. Sep, 14:27
Zehn Tage lang hatte Lilli einen schmerzhaften, gut 20 cm langen blauen Fleck in der Form von Afrika am Schienbein, weil sie über ein zwanglos in ihrem Arbeitszimmer herumstehendes Hockeytor gestolpert ist. Seltsam, denkt Lilli sich, und dabei spielen sie in Afrika doch gar kein Hockey…
Lilli legt los - 2. Sep, 09:28
Hoch über dem Atlantik ist Lilli diesen Sommer 40 geworden, und wenn der Schwabe auch mit 40 gescheit wird, so wurde Lilli doch nur ein bisschen betrunken, da es bei Air France schließlich Champagner gibt und dieser in Kombination mit Lillis Tablette gegen Reisekrankheit eine amüsante Wirkung auf sie hatte. Stunden später stand Lilli nicht etwa wie vorgesehen am Strand von Valencia, sondern in der Klamottenabteilung von C&A, wo sie immer noch etwas benebelt und unter Aufbietung sämtlicher noch vorhandenen intellektuellen Ressourcen (ach diese europäischen Kindergrößen: 128 oder doch lieber 156? In Kanada entsprechen Kindergrößen ganz einfach dem Alter, in dem sie ungefähr passen!) nach kurzen Hosen und T-Shirts suchte, die die Familie so lange über Wasser halten würden, bis das Gepäck wieder auftauchte… Dann aber lief alles wie geschmiert, und es wurde ein schöner Urlaub mit gleißender Hitze in Spanien und anschließendem Nieselwetter in Deutschland. Lilli machte neue kulinarische Entdeckungen (Langusten? das da?), schlemmte anschließend nostalgisch in Gulasch und Grießpudding und verbrachte erstaunlich viele Stunden damit, irgendwie nichts zu tun und ihren Eltern dabei zuzuhören, wie diese von Gymnastikkursen, Krankheiten und städtischen Bauvorhaben erzählten. Am meisten aber freut sich Lilli darüber, es in den letzten 10 Wochen fast immer geschafft zu haben, im Hier und Jetzt zu leben, ohne nach vorn oder hinten zu linsen – eine große Kunst, die sie nicht immer beherrscht, von der sie aber (schließlich IST sie ja jetzt 40) weiß, dass sie die einzige Art und Weise ist, Glück zu empfinden.
Lilli legt los - 1. Sep, 15:02
Lilli hat aufregende Wochen hinter sich. Zuerst war sie wieder Aushilfssekretärin und hat allerlei gelernt: z.B., dass sie richtig viel Stress inzwischen so auf den Magen schlägt, dass sie sich fast übergeben muss. Dann hat sie gemerkt, dass ihre kanadischen Aufenthaltspapiere nicht ganz so in Ordnung sind, wie sie vor dem Deutschlandflug eigentlich sein sollten, und dass es zum Glück ein Express-Antragsverfahren gibt, das solche Sachen doch schon innerhalb von drei Wochen regeln kann. Leichte Übelkeit auch hier. Schließlich hat sie noch eine Einladung zu einer schriftlichen Prüfung für eine gar nicht so uninteressante Halbtagsstelle bekommen und wurde drei Tage später (heute) auch prompt zum Vorstellungsgespräch gebeten – Antwort erst Mitte Juli. Jetzt will sie nur noch weg für eine Weile. Am Strand die Zehen in den Sand graben. Die Sonne an den Beinen spüren. Mit den Strolchen Eis schlecken. Mit Monsieur abends spazieren gehen. Morgens joggen, mittags schlafen. Und dann ganz viele liebe Leute in Deutschland besuchen, dort Brezeln und Rührkuchen mit Sahne essen und nicht erklären müssen, dass der Nachmittagskaffee eine typisch deutsche Einrichtung ist.
Deshalb wird es hier lange nichts zu lesen geben. Oder nur sporadisch. Sendepause bis September…
Lilli legt los - 17. Jun, 13:31
Volkswagen schaltet in Kanada Werbespots, die sich nicht groß von all den anderen Autoherstellern unterscheiden. Klar wird manchmal der „europäische Chic“ oder die „deutsche Technologie“ hervorgehoben, ansonsten sieht man … Autos, Straßen, Tankstellen und lächelnde Menschen in urbanen Klamotten wie bei Mazda, Ford und Honda auch. Neulich wäre Lilli beim Nachrichtengucken aber fast vom Sofa gerutscht: im Werbeblock hört sie doch plötzlich eine dieser tiefen, gutturalen Stimmen, die sonst immer im Kino die neuesten Filme anpreisen („Er lebte ein gewöhnliches Leben (Pause) mit ganz gewöhnlichen Freunden (Pause) bis er eines Tages (Pause) auf eine außergewöhnliche Frau stieß“), die auf deutsch sagt: „Volkswagen – das Auto“. Keine kanadische Stimme, die so tut, als sei sie deutsch, sondern eine Stimme, die so mühelos und akzentfrei deutsch spricht, als käme sie direkt aus Hannover. Und das hört sich gleichzeitig so fremd (inmitten des sonstigen akustischen Umfelds) und vertraut (für Lilli) an, dass Lilli ganz anders um den Bauchnabel wird. Oder wo auch immer das Zugehörigkeitsgefühl sitzt, das das Hören der Muttersprache in uns auslöst. Denn es war ja weder die Stimme des Mannes (die Lilli unbekannt war), noch die Bedeutung der Worte, die Lilli berührten. Es war allein das Hören der Sprache, das so automatisch eine Saite in Lilli zum Klingen brachte, wie manchmal eine Berührung mit einem Finger den ganzen Körper in Aufruhr bringt. Einen ähnlich direkten Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung kennt Lilli sonst nur, wenn sie eine Tüte Gummibären aufreißt und sofort ein Strolch neben ihr steht...
Lilli legt los - 16. Jun, 11:02