"Der kleine Strolch muss die Schule etwas ernster nehmen", steht da in strenger Lehrerinnenhandschrift in seinem Ordner. Lilli ist durchaus einverstanden mit der Dame, aber der kleine Strolch ist pikiert. Dabei wollte er doch nur...., hat er doch nur mal eben.... und überhaupt. Ja, die Tage der Streichelschule scheinen bei Madame Monique ein für alle Mal vorbei zu sein.
Tut ihm vielleicht ja ganz gut.
Lilli legt los - 1. Okt, 14:07
Wieso eigentlich ist man viel liebevoller und geduldiger gestimmt, ja lächelt sogar milde, wenn man an seine Kinder DENKT, als wenn man sie LEIBHAFTIG vor sich hat? Hm? Und wieso hält der gute Vorsatz, heute Nachmittag aber mal ganz lieb zu sein, gerade mal solange, wie der kleine Strolch braucht, um seine dreckigen Hände an die Badezimmerwand zu drücken? Hm? Hm?
Lilli legt los - 30. Sep, 09:07
Das hat Lilli nun davon: da wirft sie eine etwas verrückte Idee in die Luft, Monsieur fängt sie prompt auf und wirft sie ihr, konkreter jetzt, zurück: schau halt mal. Denn es ist ja so: Monsieur muss immer mal wieder beruflich und privat nach Québec, einer Stadt, die hundertmal schöner und sympathischer ist als Montréal und mit einem fast richtigen Schloss auf einer richtigen Klippe, einer Stadtmauer, kleinen buckligen Sträßchen und einer prickelnden Kulturszene alles zu bieten hat, was zu einem netten verlängerten Wochenende dazugehört. Außerdem müssen Lilli und Monsieur auch an Weihnachten, Ostern, dem Geburtstag der Schwiegermutter und anderen heiligen Tagen des Jahres nach Québec, wo sie bei Lillis Schwägerin auf knarzenden Ausziehsofas schlafen und so viel Intimität haben wie ein Eisverkäufer auf der Stuttgarter Königstraße. Die Idee also, sich in Québec eine klitzekleine Wohnung zu suchen, in der man kommen und gehen könnte, wie man Lust hat, nahm Gestalt an und ist der Grund dafür, warum Lilli nun hypnotische Stunden im Internet zubringt, wo sie Photos von Ledersofas vor alten Stuckwänden und Bädern mit blauen Blümchen ansieht und sich vorzustellen versucht, wie wohl die Wohnung insgesamt ist und ob es sich dabei um eine gute Anschaffung handeln könnte. Die Einblicke, die man dabei in fremde Leben erhält, sind besser als die Lektüre von „Bunte“ und machen mindestens genauso süchtig wie Gummibären. Lilli sitzt und schaut, klickt und schaut und kann ihre Augen nicht davon abwenden. Für manche Leute ist der Ikea-Katalog so gut wie Porno. Lilli hat jetzt noch etwas Besseres gefunden…
Lilli legt los - 28. Sep, 10:24
Je länger man im Komfort der eigenen vier Wände arbeitet und dieses genießt, um so schwieriger scheint es, den Schritt nach draußen in die Welt zu wagen, wo man mit unvorhersehbaren Menschen und Problemen IN ECHTZEIT konfrontiert wird, anstatt sie durch E-Mail erst einmal filtern zu können. Auf dem Weg zur neuen Arbeit jedenfalls kommt es Lilli auf einmal so vor, als sei ihre Wohnung so ziemlich der gemütlichste Ort, den sie sich vorstellen kann, und wünscht sich – zu einer embryonalen Rolle eingerollt – zurück unter ihren Schreibtisch. Trotzdem geht sie mit ihrem schick angezogenen Körper in richtigen Schuhen brav zum Bahnhof und reiht sich in die dort Wartenden ein, die allesamt zwar auch nicht breitschultriger aussehen als sie, anscheinend aber dem kommenden Tag gelassen genug entgegensehen, um nicht mit hektischen roten Flecken im Gesicht wilde Tänze aufzuführen oder mit den Fäusten auf den Boden zu trommeln und „Nein, ich will nicht“ zu schreien. Lilli hofft, irgendwann einmal auch so weit zu sein. Im Moment aber drückt sie sich die Fingernägel in die Handflächen, bis dort je vier kleine Halbmonde zu sehen sind.
Lilli legt los - 21. Sep, 15:07
Montréal ist eher hässlich anzusehen, vor allem für europäische Touristen, die hier nach der „historischen Innenstadt“ suchen oder der „Einkaufsmeile“ oder gar nach nennenswerten Kunstwerken, Museen, architektonischen Schönheiten oder einfach nur romantischen Sträßchen, in denen man gut bummeln kann. Nicht, dass es all dies nicht gäbe: es hält sich nur eher versteckt wie eine scheue Katze, die erst mal im Hinterhalt wartet, bevor sie sich von x-beliebigen Fremden mit einem Stadtplan in der Hand streicheln lassen würde. Manche Leute behaupten, dass man Montreal nicht zeigen kann, man kann es nur erleben, und haben damit nicht unrecht. Vielleicht muss man einfach ganz ohne touristische Erwartungen an einem Sonntag Nachmittag im Park am Fuße des Mont Royals sitzen und den Tamtams zuhören, die dort fiebrig-rhythmisch spielen, während der kleine Strolch sich bei den fliegenden Händlern ein Lederarmband mit einem eingeritzten Drachen drauf kauft. Oder vor Weihnachten im alten Hafenbecken Schlittschuh laufen, während ein Feuerwerk in die Luft steigt und Leute an einer beheizten Bar Cocktails trinken. Oder man muss einfach wie Lilli und Monsieur diesen Sommer Hand in Hand durch die Innenstadt spazieren, nachdem sie das neue Westin-Hotel ausspioniert hatten (mit Monitoren in der Eingangshalle, die die Ankunfts- und Abflugzeiten des Flughafens zeigen, sehr international), unter einem Baugerüst durchlaufen und dabei lachen, weil eine Bewegung von oben sie fürchten lässt, dass jetzt gleich etwas auf sie herunterfällt und – nachdem sie gleichzeitig und immer noch Hand in Hand auf die Seite gesprungen sind – von einem Passanten ein „Vous faites un beau couple“ („Sie sind ein schönes Paar“) zugeworfen bekommen. Ping, einfach so, wird ein kleines Kompliment gestreut wie ein Blütenblatt bei einer Hochzeit, ein Konfetti beim Kindergeburtstag. Das, liebe Leute, macht den wahren Charme von Montréal aus, nicht das neue Messezentrum, die neue Bibliothek oder der Brunnen von Riopelle, der zu jeder vollen Stunde Feuer spuckt. Es ist diese Großzügigkeit der Leute, die für den Bruchteil einer Sekunde unseren Weg kreuzen, die Augen wohlwollend statt mürrisch auf uns ruhen lassen, uns zuzwinkern und dann wieder in der Anonymität der Großstadt verschwinden. Das, und vielleicht die frischen Bagel der Rue Saint-Viateur, in die Lilli jetzt nur noch kommt, wenn sie zum Zahnarzt muss.
Lilli legt los - 19. Sep, 20:41
Lillis Ferienlektüre katapultierte sie nach Stockholm, wo sie zwischen unzähligen Tassen Kaffee und belegten Broten (essen die auch mal warm dort?) über einen Ausdruck stolperte, der ihr zwar durchaus bekannt war, von dem sie aber nicht geglaubt hätte, dass er offiziell existiert. So packt eine der Hauptpersonen einen kleinen Koffer für eine Übernachtung, der doch tatsächlich in der französischen Übersetzung „baise-en-ville“ genannt wurde. „BUKO“, hatte Lillis Schwester, die Religionslehrerin, immer dazu gesagt, als sie in Tübingen im Studentenwohnheim wohnte und mit solchen Sachen konfrontiert wurde, während Lilli noch in der Provinz zur Schule ging und sie aus der Ferne für ihre Weltläufigkeit bewunderte. Lilli muss grinsen. Sprache ist doch eine tolle Spielwiese…
Lilli legt los - 17. Sep, 09:07
Der kleine Strolch hat nicht begriffen, dass sich sein Leben ändert, nur weil Lilli zwei Tage pro Woche arbeitet. Er begreift auch nicht, dass ein Tag nur eine begrenzte Anzahl an Stunden hat. So verbringt er nun dienstags und freitags zwei Stunden nach Schulschluss in der Schülerbetreuung, die mit Spielen im Freien, in der Turnhalle oder einem extra eingerichteten Spielzimmer eigentlich kein ganz so schlechter Ort ist. Als Lilli ihn dann um halb sechs abholt, will er – so wie an den anderen Tagen der Woche – zuhause erst mal Kaffee trinken, dann spielen… und ist fürchterlich enttäuscht, als Lilli ihm erklärt, dass es bald schon Zeit zum Abendessen sein wird und er zu keinen anderen Aktivitäten außer Händewaschen und Tischdecken mehr kommen wird. Zuhause wirft er sich aufs Sofa und schlägt demonstrativ sein Buch auf (es fehlte nur das Schild „Bitte nicht stören“ um seinen Hals). Als Lilli ihn dann tatsächlich bald zum Tischdecken ruft, mault er theatralisch, dass es in diesem Hause nicht gemütlich sei. Lilli, die sich bei ihrer neuen Stelle fühlt wie ein Eichhörnchen im Aquarium, will zu einer weiteren gütigen Erklärung über das Vergehen der Zeit ansetzen, kommt aber nicht weit. Ein dicker Kloß setzt sich in ihrem Hals fest und verflüssigt sich fast augenblicklich in Tränen. Dumme, dumme Lilli. Vor den Kindern weinen, wie falsch. Ganz falsch.
Lilli legt los - 16. Sep, 10:15
Letzten Montag schlotterte Lilli vor Angst, weil am Dienstag der erste Arbeitstag beim neuen 2-Tage-Job anstand. Dabei wusste sie noch gar nicht, wovor sie eigentlich Angst haben sollte – es war eher so die Angst vor dem Ungewissen und dem eventuell bevorstehenden Scheitern, das schließlich nie auszuschließen ist. Womit sie sich im Handumdrehen als Minderwertigkeitskomplexträgerin zu erkennen gibt. Diese Angst kennt Lilli, die hatte sie früher schon, wenn sie in Vorarlberg in den Skikurs oder aber allein mit dem Zug an den Bodensee fahren sollte. Am Dienstag Abend hatte sich diese Angst vor dem Ungewissen in die Angst der Mogelpackung verwandelt – diese Leute scheinen von Lilli Wunder zu erwarten, denen Lilli sich absolut nicht gewachsen fühlt und die schon gar nicht in zwei mickrigen Tagen pro Woche erbracht werden können. Denkt Lilli zumindest jetzt. Dabei weiß sie ganz genau, dass nach den ersten Tagen alles erst mal schlimmer aussieht, als es ist, und man noch kein Urteil fällen kann. Sie weiß es und wimmert trotzdem innerlich, schläft schlecht und rechnet schon mal, wann sie wohl wieder kündigen kann, ohne dass es überstürzt aussieht. Und weiß, dass sie übertrieben reagiert…
Manchmal kennt Lilli sich so gut, dass sie sich direkt zum Hals raushängt.
Lilli legt los - 14. Sep, 10:26