Vorgestern früh kam doch glatt die olympische Flamme durch Lillis Ortschaft durch. Sehr früh, um nicht zu sagen verdammt früh, nämlich um zwanzig nach sechs. Der große Strolch fing sofort Feuer dafür und wollte sie unbedingt sehen. Und Lilli wollte unbedingt etwas mit dem großen Strolch unternehmen, um ihm zu zeigen, dass sie trotz aller Nörgelei über zu lange Haare und zu kurze Hausaufgaben zu ihm hält. Deshalb stellte der große Strolch den Wecker auf 5 Uhr 50, weckte das gesamte Haus auf und schaffte es, mit Lilli und dem kleinen Strolch (das ist das Los des kleinen Bruders – er scherte sich zwar kein bisschen um die olympische Flamme, konnte aber auch nicht einfach zu Hause bleiben, aus Angst, etwas zu verpassen) zur Hauptstraße zu traben. Aber sieh an, die olympische Flamme war wohl etwas früher als geplant vom Rathaus losgezogen und bog in die Hauptstraße ein, als Lilli und die Strolche noch gute 100 Meter davon entfernt waren. In einem „wusch“ flackerte die Flamme kurz in der Ferne auf und war auch schon wieder in die morgendliche Dunkelheit entschwunden, bevor man „Bravo“ rufen konnte. Enttäuscht mussten die Frühaufsteher daraufhin wieder nach Hause gehen, wo es dann zu spät war, um noch mal unter die Decke zu schlüpfen, und zu früh, um gleich in die Schule zu gehen. Keine Medaille für Lilli.
Lilli legt los - 10. Dez, 20:37
Der Sch… Adventskalender aus Deutschland ist übrigens immer noch nicht da. Da warten die Strolche nun schon seit 9 Tagen auf eine Vorrichtung, die ihnen das Warten auf Weihnachten versüßen soll. Sie warten also völlig ohne Unterstützung, ganz ununterstützt warten sie auf die Unterstützung und können bald schon nicht mehr vor lauter Ungeduld. Dass sie vom Nikolaus dieses Jahr endlich die lang ersehnten Nikolausmützen bekommen haben, hat sie andererseits sehr gefreut. In dieser Hinsicht sind sie sehr genügsam: sie nehmen, was sie kriegen können.
Lilli legt los - 9. Dez, 10:26
Lilli fragt in einer E-Mail: Ist die Dienstleistung X in der Grundgebühr enthalten oder wird sie extra berechnet?
Antwort: Ja.
Woraufhin Lilli zum Telefon greifen musste, um sich das Ganze erklären zu lassen. Fazit: Der Mensch, der Lilli ganz besonders schnell abfertigen wollte, musste sich anschließend doch Zeit für sie nehmen… genau die Zeit, die er am Anfang hatte sparen wollen. Lilli nennt das chronometrische Gerechtigkeit…
Lilli legt los - 7. Dez, 11:11
Ein unnötig kompliziertes Libretto, in dem der Prinz nicht nur vor dem Drachen in Ohnmacht fällt, sondern auch noch den ängstlichen Vogelfänger vorschickt, um die Prinzessin zu befreien. In dem die Tochter der Mutter entrissen und diese zum Schluss auch noch in die ewige Nacht gejagt wird, was niemanden weiter stört. Ein mit rassistischen und sexistischen Anspielungen gespickter Text und ein Fürst, der wie ein Priester verehrt wird, mit seinem Sonnensymbol auf der Brust aber eher wie ein Sektenoberhaupt aussieht. Trotz all der ihr innewohnenden Schwächen und Widersprüche war die Zauberflöte, zu der Lilli die Strolche am Wochenende mitschleppte, ein Erfolg. „Ihr müsst es nicht unbedingt mögen, aber jetzt wisst ihr wenigstens, was eine Oper ist“, hatte Lilli die Strolche, die doch ein wenig nervös waren, beruhigt. Letztes Jahr vor Weihnachten war der Nussknacker dran, diesmal Amadeus, nächstes Jahr wird es wieder etwas anderes sein. Lilli scheut weder Kosten noch Mühen, um ihren Kindern etwas Kultur mit auf den Weg zu geben. Danken tut es ihr im Moment keiner außer Monsieur, der ganz genau weiß, dass er in derartigen Dingen innerlich gekündigt hat und sein schlechtes Gewissen allein dadurch beruhigt, dass Lilli schon machen wird. Und Lilli macht, denn sie amüsiert sich dabei königlich. Dass die englisch- und französischsprachigen Sänger mit dem deutschen Text so ihre Schwierigkeiten hatten („Paminen rrrrrrrrretten ist mir Pflicht!“) trug vielleicht auch ein klein wenig zur Komik des ganzen Spektakels bei…
Lilli legt los - 24. Nov, 19:52
Als Lilli heute morgen die Treppe zum Büro hochstieg, beschlich sie plötzlich ein seltsames Gefühl: es kroch aus dem Nichts den Rücken hoch, umkreiste ihren Nacken und stieg von dort gleichzeitig runter in den Magen und bis hoch unter die Haarspitzen. Dieses Gefühl lautete in etwa: „Ich schaff es nicht. Ich kann keinen Schritt weiter gehen und diesen Tag nicht anpacken. Nach dem nächsten Schritt bin ich gelähmt und bleibe hier auf der Treppe stehen wie eine Salzsäule, die weder vor noch zurück kann.“ Seltsamerweise liefen ihre Beine trotzdem weiter und trugen sie bis zum Aufzug, der sie in den 46. Stock hochzog und dort vor die Empfangsdame spuckte. Diese lächelte Lilli so freundlich an, als sei dies ein ganz und gar gewöhnlicher Tag und nicht etwa der Tag, an dem Lilli aufhörte zu funktionieren. Danach fing Lillis Arbeitstag an, sich von selbst zu entfalten, ohne sich darum zu kümmern, ob Lilli wollte oder nicht. Und siehe da, Lilli funktionierte einigermaßen und überlebte tatsächlich bis zum Abend. Auf dem Nachhauseweg traf sie mit einer entfernten Nachbarin zusammen, die als Kinderärztin vor kurzem von der Notaufnahme auf die Palliativpflegestation übergewechselt hat. Denn ja, das gibt es auch in Kinderkrankenhäusern. Die Nachbarin gestand Lilli, dass sie daran zweifelt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Dass sie letzte Woche dachte, sie würde es nicht schaffen, und am liebsten einfach nicht mehr hingegangen wäre. Dass sie weiß, dass niemand von ihr erwartet, gleich von Anfang an perfekt zu sein, und trotzdem. Lilli hörte genau zu, obwohl sie den Text schon kannte. „Wichtig ist relativ“, dachte sie bei sich und merkte, wie das seltsame Gefühl von heute morgen wieder ein bisschen weniger kräftig auf ihre Halsschlagader drückte.
Lilli legt los - 23. Nov, 20:26
Freitag abends gucken Lilli und die Strolche ein seichtes Quiz, bei dem es nicht so sehr darauf ankommt, richtig zu antworten, sondern geschickt zu bluffen. Die Strolche sind froh, endlich mal abends fernsehen zu dürfen, und versuchen, die Fragen (Wer hat „Le rouge et le noir“ geschrieben? Was ist ein Ristretto? Wer wählt den Papst?) zu beantworten, während Lilli froh ist, faul auf dem Sofa liegen zu dürfen, ab und zu triumphierend eine Antwort in die Runde wirft und ansonsten Pläne fürs Wochenende macht. Das Lustige an der Sendung ist, dass die ganze Staffel wohl innerhalb einer Woche aufgenommen wurde und die Moderatorin zu dieser Zeit bis zu den Ohren schwanger war. Nun stöckelt sie also seit September

jeden Freitag abend wie ein elegantes Walroß auf ihren hohen Schuhen von einem Kandidaten zum anderen und stellt dabei den schönsten Bauch (und das dazugehörige Decolleté) zur Schau, jedes Mal in einem anderen tollen kurzen Kleid. Jede Woche sind die Strolche gespannt, ob sie denn nun wohl ihr Kind geboren hat (hat sie schon vor einiger Zeit), und wundern sich jedes Mal aufs Neue, dass man so lange so schwanger sein kann. Lilli grinst nur vor sich hin und fragt sich, ob es das wohl in Deutschland auch geben würde, so eine öffentliche Fernsehschwangerschaft ganz ohne Vertuschungsversuche.
Lilli legt los - 20. Nov, 18:38
Manchmal sieht Lilli vor lauter Mängel das Kind nicht mehr. Als ob es sich um eine neue Version von Windows Vista handelte, mäkelt Lilli an dem großen Strolch rum: er hat sich nicht gekämmt, keinen Schal umgebunden, zu spät ist er auch wieder dran. Wie soll er den Schal auch finden, wenn er zu faul dazu ist, danach zu suchen? Wie die Zeit im Auge behalten, wenn er es nicht fertigbringt, eine Armbanduhr zu tragen? Und wie kann er lange Haar möchten, wenn es ihm schnurz ist, diese so ungepflegt zu tragen, als sei der Wind in ein Getreidefeld gefahren? Der große Strolch ist in einem Alter angekommen, an dem er solche Schimpftiraden wortlos über sich ergehen lässt und mit gesenktem Kopf durch die Tür verschwindet. Schweren Schrittes schleppt er sich in die Schule (wenn er doch nur mal richtig zu spät kommen würde!), während Lilli sich im Badezimmer ohrfeigt. Was plagt sie nur derzeit, dass sie so auf dem großen Strolch herumreitet? Sauerstoffmangel? Smog? Lichtentzug? Oder ist sie einfach dabei, sich in eine schreckliche Kastrationsmutter zu verwandeln, die ihren Sohn vermurkst, um ihn später den Psychiatern aufs Sofa zu treiben? Schnell einen Sandsack, sonst kommt hier noch jemand zu Schaden…
Lilli legt los - 19. Nov, 17:12
Letzte Woche hatte Lillis Büro Besuch: der Personalberater, der im Beisein von Lillis Chefin ihr Vorstellungsgespräch im Juni geführt hatte, schaute auf einen Sprung vorbei. Mit seinem Rucksack und seinem gestreiften Schal sah er aus wie der kleine Prinz mit 19, und genauso unbefangen warf er Lilli über das gesamte Großraumbüro hinweg die Bemerkung zu, dass er doch einmal sehen musste, ob sie tatsächlich noch da war oder ob sie den Job bereits wieder geschmissen hätte. Dass er mit dieser ironisch gemeinten Frage fast ins Schwarze getroffen hätte, da Lilli in den ersten Wochen tatsächlich näher an der Kündigung dran war als Bella an ihrem Edward (Twilight, irgendwer?), konnte er zwar nicht ahnen, hätte er aber trotzdem als Möglichkeit in Erwägung ziehen müssen. Ironie darf in der rhetorischen Palette eines Personalberaters eigentlich nicht existieren, wenn er und seine Ratschläge ernst genommen werden möchten. Natürlich darf er auch nicht aussehen wie 19, aber dafür kann er nun wirklich nichts. Lilli jedenfalls lächelte nur schief und meinte mit einem schrägen Blick auf ihre Chefin, dass es ihr jeden Tag besser gefalle. Dass sie noch lange nicht davon überzeugt ist, die richtige Person für den Job zu sein, behielt sie hübsch für sich. Infragestellungen dieser Art stehen erst zwischen Weihnachten und Neujahr auf dem Kalender.
Lilli legt los - 18. Nov, 20:35
Eine nicht zu unterschätzende Nebenwirkung des selbständigen Arbeitens ist diese: man wird, so man einen Klamottenladen betritt, der andere Sachen verkauft als bedruckte T-Shirts und Kapuzenpullis in Größe 128, vom schieren Preis der Dinge erschlagen. Der Freelancer hat, wie bereits erwähnt, keinerlei Bedarf an schicken Klamotten, da er selbst bei Kundenbesuchen in Jeans antanzen darf bzw. sollte, um seinen Status als freier Mitarbeiter visuell zu unterstreichen. Er kauft schicke Klamotten deshalb nur, wenn sie gnadenlos runtergesetzt sind und es gewissermaßen eine Sünde wäre, sich dieses Schnäppchen entgehen zu lassen. Wagt der Freelancer dann den Schritt zurück an einen Arbeitsplatz, an dem er für andere Leute sichtbar ist, behält er den Reflex, nur Ware zum Sonderpreis zu erstehen, erst einmal bei. Was Lilli ihre zwei sehr schicken Röcke und fünf Oberteile für insgesamt 228 Dollar beschert hat. Und das, liebe Mitkonsumenten, ist billiger als das Montieren von Winterreifen.
Lilli legt los - 17. Nov, 19:58