Dieses Jahr hat Lilli zwei Lindt-Adventskalender gekauft und für die jeweils 128 Gramm Inhalt einen horrenden Preis bezahlt. Prompt ist das Türchen, das der kleine Strolch am 2. Dezember aufmacht, leer. Ein Bestückungsfehler, vielleicht ist die Schokokugel auf den Fabrikboden gerollt oder sie befindet sich hinter einem anderen Türchen, das dann zwei Überraschungen bereit halten wird... man wird sehen. Ein Adventskalender, der die Vorfreude auf Weihnachten schüren soll, stattdessen aber jetzt jeden Morgen einen flüchtigen Moment des Zweifels auslöst - hoffentlich ist heute was drin! Was für eine köstliche Ironie.
Lilli legt los - 5. Dez, 11:11
In den letzten Jahren war Lilli mit den Strolchen "für Weihnachten" in einer Vorstellung. So richtig live, mit Leuten auf der Bühne, Klatschen und Sprite in der Pause. Sie haben den Nussknacker gesehen, Cirque Éloise, Lion King, sogar die
Zauberflöte auf deutsch. Dieses Jahr ist das kulturelle Angebot nicht so ganz nach Lillis Geschmack, und kurzerhand läd Lilli die Strolche ins Kino ein (Lilli geht NIE mit den Strolchen ins Kino). Sie sehen "Life of Pi", die Verfilmung des gleichnamigen Buchs, das vor Jahren den Booker Preis gewonnen und den Montrealer Yann Martel zu einem Bestsellerautor gemacht hat. Wunderschön, wirklich. Lilli hätte es nicht besser auf die Leinwand bringen können.
Lilli legt los - 4. Dez, 11:01
Es gibt jetzt einen Raumspray, der nach Tannenbaum riecht, um das Weihnachtsambiente für all diejenigen, die einen künstlichen Baum haben, perfekt zu machen. Sprühen sich diese Leute auch einen Käsekuchenspray aufs Brot?
Lilli legt los - 3. Dez, 10:37
Aus Deutschland ist ein Päckchen eingetroffen, das Lilli unter Protest der Strolche erst einmal weglegt mit der Begründung, es sei bestimmt erst für Nikolaus gedacht. "Vielleicht sollten wir es am 1. Dezember aufmachen, falls ein Adventskalender drin ist", schlägt der kleine Strolch vor. "Nein, Adventskalender ist das keiner, dazu ist es zu klein", meint der grosse Strolch mit kennerischer Miene. Ja, wer von wohlmeinenden Omas an Lego-Adventskalender gewöhnt wurde, findet so manches Päckchen klein. Dass es dafür aber ganz schön schwer ist, hat der grosse Strolch nicht überprüft. Lilli ist sich sicher, dass die Oma das Päckchen mit lila Inhalt bestückt hat. Das ist ihr (und bestimmt auch den Strolchen inzwischen) viel lieber als Legos...
Lilli legt los - 29. Nov, 18:49
Der grosse Strolch erzählt Lilli, dass ihm ein Mädel in seiner Klasse anvertraut hat, dass der Klassenkamerad X homosexuell ist. Ohne über ihn lachen oder ihm schaden zu wollen, einfach als Tatsache. Lilli denkt daran, wie sie damals mit 22 zum ersten Mal mit der Homosexualität eines Freundes konfrontiert wurde und ist froh, nicht in der Haut des grossen Strolches zu stecken.
Lilli legt los - 22. Nov, 10:30
Jetzt ist es so, dass der grosse Strolch Lilli Bücher empfiehlt, jahrelang war es eher umgekehrt. Lilli liest also, etwas widersträubend zwar, aber doch in den Bann des Jugendthrillers gezogen, The Maze Runner von James Dashner. Die künstlich auf jugendlich machende Sprache stösst Lilli zwar ab, und auch von der Vorhersehbarkeit mancher Geschehnisse ist Lilli peinlich berührt, aus den Händen legen kann sie es trotzdem nicht. Inzwischen hat sie den Strolch aufgeholt, und morgens und abends tauschen sie sich Band 3 aus, den ihnen eine Klassenkameradin namens Wang ausgeliehen hat. Ah, die Freuden des Abtauchens in ein packendes Buch...
Lilli legt los - 21. Nov, 10:23
Weil auch Träumen zum Menschsein dazugehört, hat Lilli die Sondernummer von dwell Bath & Spa erstanden und blättert nun andächtig Seite um Seite um. Zwar will sie keine horizontale Dusche einbauen lassen und auch keine Badewanne für 16000 $ erstehen, aber vielleicht kann sie sich von den Designern und ihren Ratschlägen inspirieren lassen. Es geht auch gleich richtig handfest los: "Wenn Sie an einem nicht sparen sollten, ist es ein guter Duschkopf. Ein guter Duschkopf kann ihre Beziehung zum Badezimmererlebnis total verändern." Lilli fragt sich, was für ein Badezimmererlebnis sie eigentlich gerne hätte: abenteuerlich, entspannend oder doch lieber zartherb? Dann liest sie weiter: "Geben Sie richtig viel Geld aus für Dinge, die Sie anfassen - Wasserhähne, Griffe, Badvorleger." Dies scheint keiner weiteren Erklärung zu bedürfen. "Wählen Sie Waschbecken, Badewannen und Duschen, die Sie glücklich machen. Denn das werden sie." Hm. Zu einer Fotostrecke über ein Bad in Italien heisst es: "Dieses Bad und die Platzierung seiner Strukturelemente sind aus dem Zusammenhang heraus entstanden, in diesem Fall aus der herrlichen Natur, die das Haus umgibt." Auch Lillis neues Bad wird aus dem Zusammenhang heraus entstehen, nämlich demjenigen, der sich aus dem Verhältnis ihres Geldbeutels zur Grösse ihrer Wände ergibt. Ob das allein genügt, ihr Badezimmererlebnis zu optimieren? Einen Blick auf herrliche Natur wird Lilli nicht haben, aber immerhin hat sie ein Fenster im Bad, was nicht alle Leute von sich behaupten können. Zum Glück liest sie noch den nächsten Ratschlag: "Halten Sie es einfach und weiss - Sie können Farbe leicht durch Handtücher und Flaschen einbringen, die sich leicht auswechseln lassen. Und sorgen Sie für genügend Stauraum, denn die meisten Pflegeprodukte sind hässlich und sollten unter Verschluss bleiben." Also weiss und Stauraum - dafür haben sich die 10 $ der Zeitschrift jetzt aber richtig gelohnt.
Lilli legt los - 20. Nov, 21:24
Nach dem anfänglich etwas seltsam anmutenden
Probesitzen in diversen Badewannen gehen die Badrenovierer im Üblichen dazu über, diverse Duschen in Augenschein zu nehmen und alsbald in Glaskabinen der Sanitärhäuser so zu tun, als wüschen sie sich in voller Montur die Haare. Inzwischen ist es so kalt in Montreal, dass Lilli ihre Winterjacke, Schal, Mütze und Handschuhe anhat, sodass ihr die Duschen immer irgendwie kleiner vorkommen als zuhause - klar, sie ist angezogen mindestens fünf Zentimeter dicker rundum als im Evaskostüm. Anschliessend geht es um die Wahl der richtigen Toilette, wobei nicht nur das Auge und der Rücken zu entscheiden haben, sondern auch die Technik und der Wasserverbrauch eine Rolle spielen. Lilli hört sich die Ausführungen des Verkäufers an: jetzt gibt es also auch in Kanada ein Zweitastensystem mit 4 bzw. 6 Litern für "klein" und "gross". Manche Verkäufer sagen auch "flüssig" und "fest", und der Belesenste spricht sogar von einem Test, bei dem ermittelt wurde, dass das Modell X mit den sechs Litern insgesamt "1000 Gramm Materie" wegspülen kann. Er scheint dies viel zu finden, Lilli und Monsieur sind sich da nicht so sicher.
Lilli legt los - 19. Nov, 10:13
Seit dem Sommer gehen die Strolche viel zu spät ins Bett. Manchmal, weil der grosse Strolch bis 21 h Hockeytraining hat, oder weil sie mit Monsieur Football gucken (Lilli: "Die Strolche sind nicht deine Fernsehkumpels, sondern deine Kinder." Monsieur: "Grummelgrummelgrummel."), oder weil ihnen nach dem Essen einfällt, dass noch Hausaufgaben gemacht werden müssen. Feldmarschall Lilli überlegt sich eine neue Ins-Bett-geh-Routine: um 20 Uhr 30 müssen die Strolche nach oben, um 21 Uhr müssen sie das Licht ausmachen und jede Minute, die drüber ist, wird ihnen am Wochenende von ihrer Computerstunde abgezogen. "Geht das auch andersrum?", fragt der kleine Strolch. "Wie andersum?", will Lilli wissen. "Wenn ich gleich nach der Schule ins Bett geh, kann ich dann am Wochenende 5 Stunden lang am Computer spielen?"
Lilli legt los - 15. Nov, 18:06
Lillis Kollegin erzählt in der Mittagspause über ihren dreijährigen Aufenthalt in Nunavut. Erst herrscht Verwirrung, denn keiner weiss so recht, wo man dieses jüngste kanadische Territorium geografisch so genau ansiedeln soll. "Nunavik?", meinen manche gehört zu haben, aber das ist ja im Norden der Provinz Québec. Nein, Nunavut ist noch viel weiter nördlich, riesengross und fast nicht bevölkert. Sie zeigt Fotos von karger Landschaft, im Sommer braun und grau, im Winter weiss. Sie erzählt vom Seehund-Wett-Zerlegen und rät, Seehundfleisch immer mit einem Stück Fett zu essen, um den Geschmack erträglich zu machen. Sie hat Campingfeste erlebt, die sich im Sommer bis in den Morgen hinzogen, da die Sonne einfach nicht untergehen will. Himmelserscheinungen wie Nordlichter und dreifache Sonnen. Unglaubliche Lebensmittel- und Mietpreise, aber auch eine Hilfsbereitschaft und ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das daher stammt, dass jeder von auswärts kommt und auf eine Ersatzfamilie angewiesen ist. Und wenn die Leute "aus dem Süden" das völlige Fehlen von Bäumen ansprechen, wird ihnen geduldig erklärt, dass Bäume nur die Sicht versperren und sie deshalb heilfroh sein müssten, keine zu haben. Lilli denkt noch lange über diese Ansicht nach. Wie kann die Landschaft das Empfinden der Leute so prägen? Mögen Mitteleuropäer Bäume nur deshalb, weil sie inmitten von Mischwäldern aufgewachsen sind? Lilli jedenfalls fühlt sich den Japanern da näher als den Nunavutern: auf japanisch gibt es ein Wort, das "Waldbaden" bedeutet, so wie Sonnenbaden. Am Freitag, wenn die Strolche keine Schule haben, wird sie sie endlich mal wieder mit auf ein Waldbad nehmen...
Lilli legt los - 14. Nov, 17:41
Lillis Nachbarin ist dieses Jahr 50 geworden. Drei Jahre lang hat sie nur 80 % ihres Gehaltes bezogen, um dann sechs Monate lang aussetzen zu können, ohne ein allzu grosses Loch ins Budget zu reissen. Sie hat diese Zeit dazu genutzt, ihren Garten, ihr Haus und sich selbst auf Vordermann zu bringen, sich politisch zu betätigen und vier Wochen bei ihrer Schwester in Kenia zu verbringen. Ja, Lilli kennt interessante Menschen! Anscheinend hat die Nachbarin über 2000 Fotos in Afrika gemacht und allerlei zu erzählen über Erlebnisse, die einem normalen Safaritouristen normalerweise verschlossen bleiben. Herzeigen will sie ihre Fotos aber nicht. Sie muss sie zuerst aussortieren, sie hat keinen Laptop, sie weiss nicht, in welcher Form sie sie ausdrucken wird, und Zeit hat sie auch keine. Lilli hat für 2012 ein 24-seitiges Fotobuch erstellt, in dem ihr Floridaurlaub immerhin sechs Doppelseiten einnimmt, aber sehen will es keiner.
Lilli legt los - 13. Nov, 21:51
"Mediocrity in Love Rejected", so hiess ein Gedicht, das Lillis Freundin, als sie noch in Deutschland an die Uni ging, bearbeiten musste. Ja, so wollten sie das damals haben: totale, heissblütige Liebe und nicht nur lauwarme Alltagsgefühle, und wenn die Beziehung nicht mehr das absolute Glück liefert, der Partner nicht mehr bereichernd ist und die Gespräche sich nur noch um Winterreifen drehen - oder gar keine Gespräche mehr möglich sind, da man sich nichts mehr zu sagen hat - dann ist es Zeit, zu gehen, um nach einer neuen idealen Liebe zu suchen. Wieso sollte man sich mit weniger zufrieden geben, wenn das Leben doch kurz ist und einzig Gefühle den Menschen über das Tier erheben? Wenn da draussen doch irgendwo ein anderer, interessanterer Partner wartet, denn geben Sie es doch zu: es gibt nicht nur den einen wahren Seelenverbundenen, es gibt derer doch bestimmt fünf oder sechs unter all den Menschen dieser Erde!
Damals waren Lilli und ihre Freundin 18 und noch weit von ihrer grossen Liebe entfernt. Dann traf Lilli auf Monsieur und lange, LAAAAAANGE Zeit waren sie sehr glücklich miteinander. Jetzt aber, wenn man Lilli nach ihrer Partnerschaft fragen würde (was zum Glück keiner macht) und Lilli ganz ehrlich antworten würde, müsste sie sagen, sie gleiche einer Wüstendurchquerung. Lange Zeit nur eintönige, trockene Einöde, ab und zu aufgelockert durch eine Oase (doch, doch, durchaus), die mit ihrer Blumenvielfalt und Palmenpracht daran erinnert, wie es sein könnte, wenn die Himmel doch nur gnädiger wären.
Ist es nun schlimm, dass Lilli diese Situation gar nicht so schlimm findet? Dass sie sich mit dem Bestmöglichen, mit "Gut genug" und lauwarm abfindet, das sich auf die Dauer (und vielleicht egal, mit welchem Partner) ganz unausweichlich einstellt, auch wenn es zu Anfang ganz anders war? Zu gerne wüsste sie, wie hoch bei all den Paaren dieser Welt die Dunkelziffer ist...
Lilli legt los - 12. Nov, 05:00