Laufen

Donnerstag, 8. Mai 2008

Die richtigen Schuhe

Am 1. April 2008 sind die Gehwege in und um Montréal endlich eisfrei und laden Lilli zum Schuhwechsel ein:

Es ist kaum zu glauben, wie schmutzig die Schneereste sind, die sich immer noch zu beiden Seiten der Straßen auftürmen. Immerhin ist das Eis auf den Gehwegen weggetaut, es nieselt heute morgen ein bisschen und zum ersten Mal seit Beginn des Lauftrainings stecken meine Füße in schön gepolsterten Laufschuhen. Denn so gut das Laufen auch für Beine und Po sein mag – für die Kniegelenke ist das ständige Hämmern jedenfalls belastend, soviel habe ich jetzt schon festgestellt. Wer damit Schwierigkeiten hat, sollte auf alle Fälle in einen gut abfedernden Schuh investieren (oder besser noch in zwei! ha, ha). Auch ein paar Aufwärmübungen können nicht schaden, wenn ich mir auch sehr komisch dabei vorkomme, auf dem Gehweg vor dem Haus die Knie und Fußgelenke kreisen zu lassen. Gut, dass es immer noch nicht ganz hell ist… Im Prinzip wäre es natürlich viel besser, auf einem moosigen Waldweg zu laufen, aber dazu müsste ich mich ins Auto setzen und mindestens eine Viertelstunde fahren – kommt leider aus Zeit- und noch ein paar anderen Gründen nicht in Frage. Ja, Württembergs fruchtbare Felder und liebliche Weinberge (lese gerade Wilhelm Hauffs "Lichtenstein", deshalb der Anflug von Lyrik) sind leider weit entfernt. Also wieder durch die Nachbarschaft, wobei mir die immer gleiche Route so langsam langweilig wird. Es ist zwar ganz unterhaltsam, den Leuten in die erleuchteten Küchen zu schauen und beim Frühstücken zuzusehen, aber irgendwie verführt die allzu bekannte Strecke dazu, das Tempo schleifen zu lassen. Ich werde mir eine neue Strecke aussuchen müssen – vielleicht sogar eine etwas längere, die ich dann in der gleichen Zeit (und deshalb mit höherer Geschwindigkeit) bewältigen muss.

Immer muss man sich überbieten, um nicht auf der Stelle zu treten, das scheint beim Laufen nicht anders zu sein als im richtigen Leben.

Montag, 5. Mai 2008

Lilli geht ins Fitnessstudio

Kurz darauf verhandelt Lilli mit der Schwäbin in ihr (die nicht viel Spaß versteht, oh nein!) und erreicht doch tatsächlich, dass sie guten Gewissens ins Fitnessstudio gehen kann, wenn sie vorher beide Bäder putzt. Gedacht, getan, und dies kam dabei raus:

19. März 2008: Hier in Montréal gibt es Fitnessstudios, die rund um die Uhr geöffnet sind. Da würde sich ein Besuch schon aus soziologischen Gründen lohnen, denn wer geht denn bitte nachts um vier an die Geräte? Schlaflose Mütter, Hotelpersonal oder Hells Angels, die sich tagsüber bedeckt halten müssen? Mein Studio jedenfalls hat ganz unspektakuläre Öffnungszeiten, wird von der Gemeinde betrieben und von freiwilligen Helfern betreut, die als erstes, wenn sie ihren Dienst antreten, das Musikprogramm auf ihre persönliche Vorlieben abändern. Am Schrillsten ist dann das Klassikprogramm von CBC, dem englischsprachigen staatlichen Sender, bei dem sich Vivaldi und Konsorten mit Staumeldungen abwechseln. Der Sprecher bricht sich bei der Aufzählung der französischen Straßennamen jedesmal fast die Zunge ab: heavy traffic on Décarie, especially at the Turcotte exchange, Bonaventure and de la Vérendrye - oh boy. Nach 20-minütigem Lauf auf dem Laufband wechsele ich über zu den Gewichten und merke, dass meine Arme vom Spiegelputzen und Duscheauswischen (gibt es bessere Dehnübungen?) doch schon vorbelastet waren. Es zieht und zwickt und ist auch eigentlich ziemlich langweilig, immer diese Geräte auf- und abzubewegen, aber ich halte durch. Die Belohnung kommt zum Schluss, wenn ich auf dem Halbliegeergometer sitze (heißt das wirklich so? Es sieht jedenfalls aus wie ein Fahrrad mit Rückenlehne und ist das einzige Gerät, auf dem ich gleichzeitig trainieren und Zeitschriften lesen kann, die ich nie abonnieren würde). Da erfahre ich endlich, dass Cameron Diaz viel Gemüsesuppe isst (ich auch!) und Claudia Schiffer ihren Tee mit Honig süßt. Kuchen essen die Promis anscheinend nicht, dafür Nüsse, Beeren, Fisch und Spinat.

Mir fällt auf, dass ich schon lange keinen Apfelkuchen mehr gebacken habe, und nehme mir vor, das gleich am Wochenende nachzuholen. Mit Sahne.

Freitag, 2. Mai 2008

Laufen ist gut fürs Gehirn

Eine Woche später zeigt der dunkle Himmel morgens an einer Ecke schon einen blauen Fetzen. Mutig ziehe ich los. Ich bin froh, wieder früh unterwegs zu sein und nicht das Gefühl zu haben, mitten am Tag etwas Unanständiges zu tun.

Bald stellt sich wieder das beglückende Gefühl ein, einen harmonischen Rhythmus gefunden zu haben und nicht mehr an das eigentliche Gehen und Atmen denken zu müssen. Ab da kann ich meine Füße vergessen und meinen Gedanken freien Lauf lassen. Das Gehen scheint dem Kopf gut zu tun, denn die Ideen und Überlegungen kommen schön ordentlich daherspaziert, ohne sich – wie es sonst oft der Fall ist – zu hetzen oder im Kreis zu drehen. Vieles erscheint in einem neuen Licht oder ordnet sich mühelos, wo zuvor Unklarheit herrschte. So lasse ich zum Beispiel die Auseinandersetzung mit dem großen Strolch vom Abend zuvor Revue passieren und überlege, ob ich wohl richtig reagiert habe. Eine Straßenecke weiter komme ich zur Einsicht, vielleicht doch etwas zu wütend geworden zu sein. Grenzen setzen und auf deren Einhaltung bestehen, ohne sich dabei aufzuregen oder das Strolchverhalten als persönliche Beleidigung zu sehen, das ist die große Kunst der guten Mutter, die ich so gerne sein möchte. Ich laufe und laufe, und ohne mir der Zeit bewusst zu sein, biege ich pünktlich wieder in unsere Straße ein. Meine Zunge liegt mir wie ein schwerer Brocken Knetmasse im Mund – nächstes Mal muss ich unbedingt ein paar Schluck trinken, bevor ich loslaufe, sonst habe ich das Gefühl, auf der Strecke auszudörren. Inzwischen ist es richtig hell, und mit der Helligkeit kommt eine große Portion Optimismus über mich. In zwei Minuten werde ich unter der Dusche stehen, danach die Strolche aufwecken und ihnen trotz des gestrigen Streits liebevoll und fröhlich gegenübertreten.

Es wird ein schöner Tag werden, da bin ich mir ganz sicher.

Donnerstag, 1. Mai 2008

Lilli wird ein Opfer der Zeitumstellung

Am 8. März wurde hier in Kanada die Uhr umgestellt, wodurch es um 6 Uhr morgens wieder so dunkel war, dass ich das Laufen kurzerhand auf später verschob. Es ist schließlich eine Sache, seine Nase in die klirrende Kälte zu stecken, und eine ganz andere, dieser Kälte auch noch im Dunkeln gegenübertreten zu müssen. Ich jedenfalls tu mir das nicht an, dazu ist der Winter hier zu lang!

Aber erst loszulaufen, wenn die Strolche schon auf dem Weg zur Schule sind, entpuppte sich als Fehler. Hier der Beweis in Form einer Tagebucheintragung vom 11. März:

Um 8 Uhr 30 scheint die Sonne hell und gleißend auf den von den Räumfahrzeugen beiseite geschobenen Schnee, und mit der Wärme, die durch das Laufen in meine Glieder kommt, durchflutet mich auch die gute Laune. Komisch, solange ich noch im Haus bin, kostet es mich große Überwindung, mich zum Laufen durchzuringen, aber wenn ich erst einmal in Bewegung gekommen bin, macht es mir soviel Spaß, dass ich gar nicht mehr aufhören möchte. Mein Atem dampft vor mir her und beschlägt die Brillengläser, was damit zusammenhängt, dass ich bei jedem Schritt nach unten sehen muss, um nicht auf einer Eisplatte auszurutschen. Als ich den Kopf etwas anhebe, fällt mir auf, wie viele andere Leute bereits unterwegs sind – viele steigen gerade ins Auto, laufen zum Zug oder warten an der Bushaltestelle, und die Schüler der Privatschulen treffen sich in ihren dunkelblauen Uniformen an den Straßenecken, an denen sie der Schulbus einsammeln wird. Das schlechte Gewissen durchfährt mich wie ein Blitz – alle diese Leute sind bereits auf dem Weg zur Arbeit oder zu sonstigen rechtschaffenen Tätigkeiten, während ich noch nicht einmal geduscht habe. Hilfe, ich bin nicht im Gleichklang mit der Gesellschaft, ich hinke ihr hinterdrein! Sofort vergeht mir die Lust am Laufen und ich beeile mich, nach Hause zu kommen, um mich einzureihen in die Meute derjenigen, die die Tageslichtstunden damit verbringen, in die Tasten zu hauen und Dokumente zu produzieren (mein Sohn auf die Frage: „Was macht Deine Mutter beruflich?“ nach kurzem Nachdenken: „Sie macht Papier.“). Obwohl ich die Selbständigkeit unter anderem deshalb gewählt habe, damit mir keiner mehr meinen Tagesablauf vorschreibt, dusche ich so schnell wie möglich und husche an den Computer, als ob mein Chef schon mit strengem Gesicht und vorwurfsvollem Blick auf die Uhr daneben stehen würde. Ja, wer keinen Stress hat, der macht sich selber welchen…

Und das Laufen? Muss doch wieder früher stattfinden, Dunkelheit hin oder her.

Mittwoch, 30. April 2008

Etwas ungelenk läuft Lilli tatsächlich am nächsten Morgen los.

29. Februar 2008: Der Wecker ist geradezu eine Erlösung, denn Monsieur liegt neben mir und hustet ununterbrochen – wahrscheinlich hat ihn die Grippe jetzt auch erwischt. Draußen wird es gerade hell, und das in kanadischem Wetter geübte Auge kann abschätzen, dass es mächtig kalt sein wird. Also Skiklamotten anziehen, Schal, Mütze, Handschuhe, Stiefel. An Joggen ist so vermummt nicht zu denken, eher an ein zügiges Laufen, auch wegen der vereisten Gehwege. Ob es wohl so etwas wie Schneeketten für Turnschuhe gibt?

Um 6 Uhr 15 bin ich draußen. Vor dem Nachbarhaus steht ein schwarzer Pickup mit laufendem Motor und der Aufschrift „Der Wintergarten-Experte“. Hinter dem Steuer kann ich eine Silhouette erkennen, die einen Kaffeebecher umklammert hält. Also wird heute wieder an Nachbars Anbau weitergearbeitet und der Frühankömmling lässt Motor und Heizung laufen, während er auf seine Kollegen wartet. Es ist so kalt, dass mir beim Einatmen die Luft in den Nasenlöchern gefriert. Etwas ungelenk laufe ich los und versuche, so langsam wie möglich einzuatmen, um zu verhindern, dass mich die kalte Luft zum Husten bringt - wodurch ich erst recht außer Atem komme und zu keuchen anfange. Also Lilli, Laufen kann doch so schwer nicht sein? Nach zwei Straßenecken finde ich schließlich das richtige Atemtempo und merke, wie sich mein Körper erwärmt. Wenn ich keine dicke Daunenjacke anhätte, würde ich glatt wie ein olympischer Profi-Geher mit den Armen pendeln. Ich freue mich, schon so früh unterwegs zu sein, und komme mir vor, als hätte ich diese Zeit dem lieben Gott gestohlen. Eine halbe Stunde, in der niemand etwas von mir will, mir kein Abgabetermin im Nacken sitzt und mich auch kein Bügelbrett vorwurfsvoll ansieht, denn diese 30 Minuten habe ich mir selbst abgezwackt, aus den Rippen geschält sozusagen (also doch hergezaubert?). Als ich kurz vor 7 Uhr wieder in unsere Straße einbiege, sitzt der Wintergarten-Experte immer noch (!) mit laufendem Motor im Pickup. Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu. Wäre er lieber mit mir mitgelaufen, das hätte ihm schon eingeheizt! Ich jedenfalls bin ganz schön ins Schwitzen gekommen, obwohl ich noch lange nicht müde bin und gerne noch eine Weile weiter gelaufen wäre. Ich bin gut gelaunt, geradezu euphorisch, und habe das Gefühl, heute schon viel geleistet zu haben.

Und zwar ganz im schwäbischen Sinne, etwas richtig Vernünftiges, für das man sich nicht zu entschuldigen braucht.

Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Status

Online seit 6189 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 23. Mai, 03:27

Credits

Web Counter-Modul


Laufen
Lillis Positiv-Pakt
Mitmenschen
Reise in den Abgrund
Selbständig arbeiten
Strolche
Zeitmanagement
Zonstiges
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
Blog Top Liste - by TopBlogs.de Blog Verzeichnis Bloggeramt.de