Mitmenschen

Freitag, 18. Januar 2013

Ach ja, Vorurteile

Lillis Vater würde sie ein spätes Mädchen nennen, dabei ist die Frau über 40, pummelig und ähnelt mit ihren tiefschwarz gefärbten Haaren, ihren roten hochhackigen Stiefeln und ihren schwarz-silbrigen Outfits eher einer Hexe als einer nicht aufgeblühten Blume, die sich danach verzehrt, endlich an der Reihe zu sein. Sie ist herzensgut, grosszügig und sanft, allein ihre Besessenheit, sich optisch zu verjüngen, gibt ihr ein derart hartes, abweisendes Aussehen. Sie verbringt ihre Ferien in Kuba, wo sie vor drei Jahren einen Kubaner kennengelernt hat, still und ernst auf den Fotos, die sie im Büro anschliessend herzeigt, mager auch, jedenfalls neben ihr. Hier in Montreal wohnt sie bei ihrer Mutter, wodurch sie viel Miete spart, die sie dann wieder in Flugtickets steckt und in Sachen, die sie nach Kuba schickt für die Schwestern und Nichten und Neffen ihres Freundes, wenn sie sie nicht selbst im Koffer mitnehmen kann. Vor einem Jahr hat sie ihm einen Heiratsantrag gemacht und den Einwanderungsantrag für ihn gestellt, sehr zum Missfallen ihrer Mutter, die dem Kubaner misstraut und ihre Tochter vor einer Enttäuschung und womöglich finanziellen Schwierigkeiten schützen will. Auch in Lillis Büro finden sich Leute, die der Meinung sind, dass die dicke Frau und der dünne Kubaner nicht zueinander passen, und sogar die kanadischen Einwanderungsbeamten haben dem Kubaner in der Botschaft in Havanna ein Foto von ihnen beiden unter die Nase gehalten und gemeint, sie würden rein äusserlich kein harmonisches Paar abgeben. Ob das denn wirklich Liebe sein kann?

Jedenfalls ist der Kubaner jetzt im Anflug. Sie hat ihm gesagt, er solle seinen dicken Anorak mitbringen, denn im Moment hat es in Montreal krachende Minusgrade. Trotzdem wird sie erst einmal mit ihm Einkaufen gehen müssen, um ihn einzukleiden. Dann wird er in ihr Zimmer bei ihrer Mutter einziehen und versuchen, hier ein neues Leben anzufangen. Erst in drei Wochen, wenn die Frau wieder ins Büro kommt, wird Lilli erfahren, wie es so gelaufen ist.

Donnerstag, 17. Januar 2013

Morgens um 7 ist die Welt noch in Ordnung

Heute morgen ist Lilli um 5 Uhr aufgewacht, um an ein bestimmtes Projekt zu denken, das schon vor Weihnachten dringend war, seither aber keinerlei nennenswerte Fortschritte aufweisen kann. So etwas passiert ihr seit letztem Herbst immer wieder - das frühe Aufwachen, das anschliessende Hin- und Herdrehen, ohne wieder einschlafen zu können, das Rattern der sich im Kreis drehenden Gedanken. Heute hat sie beschlossen, einfach gleich aufzustehen und den Zug eine Stunde früher zu nehmen. "Wenigstens krieg ich dann noch einen Sitzplatz", dachte sie im Gehen bei sich, aber der Wartesteig und auch der Zug waren so voll wie immer. "Entweder sind das alles Leute, die genauso gestresst sind wie ich, oder Leute, die jeden Tag so früh mit dem Zug fahren", sagt Lilli sich schaudernd. Beides kommt ihr unerträglich vor.

Montag, 17. Dezember 2012

Lilli bei den Staubfängern

Lilli ist glücklich. Trotz Grippe letzte Woche hat sie es heute geschafft, auf den Kunsthandwerksmarkt zu gehen, der jedes Jahr vor Weihnachten in Montréal stattfindet. Eine Messehalle voller Stände, an denen Getöpfertes, Gestricktes, Gemaltes, viel Schmuck und gläsernes Allerlei angeboten wird. Gekauft hat sie dieses Jahr genau ein handgewebtes und bei Mitternacht und Wolfsgeheul gefärbtes Biobaumwoll-Geschirrhandtuch, das sie ihren Eltern noch in einem Briefumschlag schicken kann. Aber egal, sie freut sich an dem Handgemachten, das in ihr ein zartes Band zum Schwingen bringt, als sei sie unter Gleichgesinnten, obwohl sie selbst schon lange keine Stricknadel mehr in der Hand hatte. Das ist doch was Schönes, all diese Kreativität, all diese nicht-industriellen Sachen, die vielleicht nicht ganz gerade daherkommen, dafür aber eine Geschichte zu erzählen haben. Im Messekaffee sitzen überwiegend Frauen über 50, die 25 % Männer scheinen eher als Fahrer und gutmütige Tütenträger mitgekommen zu sein. Als sich eine junge Frau mit einem Zwillingskinderwagen dazu setzt und anfängt, erst das eine winzige Baby mit Zipfelmütze, dann das andere zu stillen, nicken ihr die Leute aufmunternd zu und lächeln. "Oh, c'est donc ben petit, c'est donc ben beau", sagen sie und denken an ihre eigenen Kinder zurück. Ein schöner Montagnachmittag in Montréal.

Montag, 3. Dezember 2012

Echt jetzt

Es gibt jetzt einen Raumspray, der nach Tannenbaum riecht, um das Weihnachtsambiente für all diejenigen, die einen künstlichen Baum haben, perfekt zu machen. Sprühen sich diese Leute auch einen Käsekuchenspray aufs Brot?

Montag, 19. November 2012

Wie viel sind 1000 Gramm?

Nach dem anfänglich etwas seltsam anmutenden Probesitzen in diversen Badewannen gehen die Badrenovierer im Üblichen dazu über, diverse Duschen in Augenschein zu nehmen und alsbald in Glaskabinen der Sanitärhäuser so zu tun, als wüschen sie sich in voller Montur die Haare. Inzwischen ist es so kalt in Montreal, dass Lilli ihre Winterjacke, Schal, Mütze und Handschuhe anhat, sodass ihr die Duschen immer irgendwie kleiner vorkommen als zuhause - klar, sie ist angezogen mindestens fünf Zentimeter dicker rundum als im Evaskostüm. Anschliessend geht es um die Wahl der richtigen Toilette, wobei nicht nur das Auge und der Rücken zu entscheiden haben, sondern auch die Technik und der Wasserverbrauch eine Rolle spielen. Lilli hört sich die Ausführungen des Verkäufers an: jetzt gibt es also auch in Kanada ein Zweitastensystem mit 4 bzw. 6 Litern für "klein" und "gross". Manche Verkäufer sagen auch "flüssig" und "fest", und der Belesenste spricht sogar von einem Test, bei dem ermittelt wurde, dass das Modell X mit den sechs Litern insgesamt "1000 Gramm Materie" wegspülen kann. Er scheint dies viel zu finden, Lilli und Monsieur sind sich da nicht so sicher.

Mittwoch, 14. November 2012

Mein Freund, der Baum

Lillis Kollegin erzählt in der Mittagspause über ihren dreijährigen Aufenthalt in Nunavut. Erst herrscht Verwirrung, denn keiner weiss so recht, wo man dieses jüngste kanadische Territorium geografisch so genau ansiedeln soll. "Nunavik?", meinen manche gehört zu haben, aber das ist ja im Norden der Provinz Québec. Nein, Nunavut ist noch viel weiter nördlich, riesengross und fast nicht bevölkert. Sie zeigt Fotos von karger Landschaft, im Sommer braun und grau, im Winter weiss. Sie erzählt vom Seehund-Wett-Zerlegen und rät, Seehundfleisch immer mit einem Stück Fett zu essen, um den Geschmack erträglich zu machen. Sie hat Campingfeste erlebt, die sich im Sommer bis in den Morgen hinzogen, da die Sonne einfach nicht untergehen will. Himmelserscheinungen wie Nordlichter und dreifache Sonnen. Unglaubliche Lebensmittel- und Mietpreise, aber auch eine Hilfsbereitschaft und ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das daher stammt, dass jeder von auswärts kommt und auf eine Ersatzfamilie angewiesen ist. Und wenn die Leute "aus dem Süden" das völlige Fehlen von Bäumen ansprechen, wird ihnen geduldig erklärt, dass Bäume nur die Sicht versperren und sie deshalb heilfroh sein müssten, keine zu haben. Lilli denkt noch lange über diese Ansicht nach. Wie kann die Landschaft das Empfinden der Leute so prägen? Mögen Mitteleuropäer Bäume nur deshalb, weil sie inmitten von Mischwäldern aufgewachsen sind? Lilli jedenfalls fühlt sich den Japanern da näher als den Nunavutern: auf japanisch gibt es ein Wort, das "Waldbaden" bedeutet, so wie Sonnenbaden. Am Freitag, wenn die Strolche keine Schule haben, wird sie sie endlich mal wieder mit auf ein Waldbad nehmen...

Dienstag, 13. November 2012

Meine Fotos, deine Fotos

Lillis Nachbarin ist dieses Jahr 50 geworden. Drei Jahre lang hat sie nur 80 % ihres Gehaltes bezogen, um dann sechs Monate lang aussetzen zu können, ohne ein allzu grosses Loch ins Budget zu reissen. Sie hat diese Zeit dazu genutzt, ihren Garten, ihr Haus und sich selbst auf Vordermann zu bringen, sich politisch zu betätigen und vier Wochen bei ihrer Schwester in Kenia zu verbringen. Ja, Lilli kennt interessante Menschen! Anscheinend hat die Nachbarin über 2000 Fotos in Afrika gemacht und allerlei zu erzählen über Erlebnisse, die einem normalen Safaritouristen normalerweise verschlossen bleiben. Herzeigen will sie ihre Fotos aber nicht. Sie muss sie zuerst aussortieren, sie hat keinen Laptop, sie weiss nicht, in welcher Form sie sie ausdrucken wird, und Zeit hat sie auch keine. Lilli hat für 2012 ein 24-seitiges Fotobuch erstellt, in dem ihr Floridaurlaub immerhin sechs Doppelseiten einnimmt, aber sehen will es keiner.

Montag, 12. November 2012

Mediocrity in Love

"Mediocrity in Love Rejected", so hiess ein Gedicht, das Lillis Freundin, als sie noch in Deutschland an die Uni ging, bearbeiten musste. Ja, so wollten sie das damals haben: totale, heissblütige Liebe und nicht nur lauwarme Alltagsgefühle, und wenn die Beziehung nicht mehr das absolute Glück liefert, der Partner nicht mehr bereichernd ist und die Gespräche sich nur noch um Winterreifen drehen - oder gar keine Gespräche mehr möglich sind, da man sich nichts mehr zu sagen hat - dann ist es Zeit, zu gehen, um nach einer neuen idealen Liebe zu suchen. Wieso sollte man sich mit weniger zufrieden geben, wenn das Leben doch kurz ist und einzig Gefühle den Menschen über das Tier erheben? Wenn da draussen doch irgendwo ein anderer, interessanterer Partner wartet, denn geben Sie es doch zu: es gibt nicht nur den einen wahren Seelenverbundenen, es gibt derer doch bestimmt fünf oder sechs unter all den Menschen dieser Erde!

Damals waren Lilli und ihre Freundin 18 und noch weit von ihrer grossen Liebe entfernt. Dann traf Lilli auf Monsieur und lange, LAAAAAANGE Zeit waren sie sehr glücklich miteinander. Jetzt aber, wenn man Lilli nach ihrer Partnerschaft fragen würde (was zum Glück keiner macht) und Lilli ganz ehrlich antworten würde, müsste sie sagen, sie gleiche einer Wüstendurchquerung. Lange Zeit nur eintönige, trockene Einöde, ab und zu aufgelockert durch eine Oase (doch, doch, durchaus), die mit ihrer Blumenvielfalt und Palmenpracht daran erinnert, wie es sein könnte, wenn die Himmel doch nur gnädiger wären.

Ist es nun schlimm, dass Lilli diese Situation gar nicht so schlimm findet? Dass sie sich mit dem Bestmöglichen, mit "Gut genug" und lauwarm abfindet, das sich auf die Dauer (und vielleicht egal, mit welchem Partner) ganz unausweichlich einstellt, auch wenn es zu Anfang ganz anders war? Zu gerne wüsste sie, wie hoch bei all den Paaren dieser Welt die Dunkelziffer ist...

Freitag, 26. Oktober 2012

Deux, c'est mieux

Lilli muss zur Mammografie. Die Maschinenführerin drückt, zieht und quetscht, um "so viel Busen wie möglich auf die Platte zu bekommen". "Was bei mir ja nicht ganz einfach ist", scherzt Lilli, um die sehr nüchterne Atmosphäre etwas aufzuheitern. "Wenigstens haben Sie zwei", entgegnet da die Maschinenführerin trocken. Da sagt Lilli gar nichts mehr.

Freitag, 19. Oktober 2012

Erinnerungsstücke

Der kleine Strolch muss eine Powerpoint-Präsentation über seine Ferien machen. "Ich geb dir einen USB-Stick mit unseren Urlaubsfotos mit", bietet Lilli an, aber der kleine Strolch lehnt dankend ab. "Ich hab schon alle Fotos auf Google Images gefunden, die ich brauche." Fotos vom Hotel, vom Strand, vom Café mit dem lustigen Namen, der Kajaktour, den Krokodilen, dem Museum, you name it. Natürlich sind weder Lilli noch der kleine Strolch darauf zu sehen, aber wen das nicht stört, der findet auf Google Images alles, um sich seine Urlaubserinnerungen zu fabrizieren, ohne je selbst auf den Auslöser gedrückt zu haben. Überall war schon mal jemand und hat fotografiert, was das Zeug hält. Eine seltsame Zeit ist das, in der wir leben.

Über Lilli

Laufen ist denken, manchmal auch überlegen, immer aber sich erneuern. Eine neue Sicht auf die Dinge erlangen, die uns bewegen. Laufen ist manchmal auch davonlaufen, für eine Weile wenigstens, bevor man wieder heimkommt zu Mann und Kindern, Wäsche und Kochtopf, zu den eigenen Macken und all den bunten Schnipseln, die ein Leben so ausmachen. Laufen ist das beste Beobachten, das es gibt.

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